kritisch gelesen: anna-katharina wöbses umwelthistorische analyse „sylt – die fragile schönheit“
: Ächzender Inselorganismus

Auf Sylt, weiß jeder, ist die Promi- und Luxuswagen-Dichte besonders hoch. Was nicht jeder weiß: Die Dichte an Schutzzonen, die der Natur dienen, ist es nicht minder – vom Naturschutzgebiete (NSG) bis zum Fauna-Flora-Habitat-Gebiet (FFH). Warum das so ist, erzählt die Umwelthistorikerin Anna-Katharina Wöbse in ihrem Buch „Sylt“. Aber genauso: Wer aus dem hohen Aufkommen an Schutz-Zertifizierungen schließt, dass jede Sorge um Sylts Natur überflüssig ist, sitzt einem Trugschluss auf.

Wer sich fragt, ob ein Buch über Nordfrieslands größte Insel wirklich drei Untertitel braucht, von „Die fragile Schönheit“, über „100 Jahre Naturschutz“ bis „Eine Inselgeschichte“: Nein, weniger hätte auch gereicht. Auch wem das Bebilderungs-Layout altbacken vorkommt, wen die idyllisierende Sylt-Kunst irritiert: Er liegt nicht falsch. Und wer bezweifelt, dass die dazwischengestreuten enzyklopädischen Naturkunde-Exkurse wirklich nötig sind, vom Sandaal bis zum Schweinswal, hat recht. Aber all das ist verschmerzbar.

Der Sylter Meeresbiologe Karsten Reise, von dem das Vorwort stammt, sagt über Wöbses porträthafte Analyse des Spagats zwischen Sylts Naturschutz-Fehlentwicklungen und -Pionierleistungen: „Das wühlt auf, macht zutiefst nachdenklich und dann Lust auf neue Wege in die Zukunft auf der Insel und dem Planeten insgesamt.“ Das „Verhalten von uns zur Natur“ erscheine auf Sylt „wie im Brennglas“.

Und damit hat Reise recht: Was wir über den Mikrokosmos Sylt lesen, ist exempla­risch. Wöbse erzählt ihre Fakten spannend, streut Atmosphärisches ein, Philosophisches, zeigt uns die Insel durch die Augen vieler Protagonisten, beginnend im 19. Jahrhundert. Es geht um Schiffswracks und Sandverlagerungen, Bürgerinitiativen und Behördenentscheidungen. Es geht um die fatalen Folgen der Militärpräsenz, von den Schützengräben des Ersten Weltkriegs bis zum Luft-Boden-Schießplatz der Bundesluftwaffe.

Es geht um das krude Naturschutzverständnis von NS-Generalfeldmarschall Herrmann Göring, der auf Sylt ein Ferienhaus besaß, und die „betongewordene Unverschämtheit“ des 30-stöckigen Appartementprojekts „Atlantis“ Ende der 1960er. Um die Nordsee als Deponie, Öl auf den Stränden, die Auswirkungen von Tourismus und Küstenschutz.

So viel Lob sie seinen lokalen Aktivisten auch zumisst: Die Geschichte des Sylter Naturschutzes sieht Wöbse kritisch. Dass sich dort heute viele Schutzkategorien überlagern, züchte Papiertiger und bürokratische Bürden. Das ist klug, das ist wegweisend.

Es ist also nicht alles gut auf Sylt, lernen wir. Und das liegt an uns allen: „Während sich Urlauberinnen und Urlauber in Sand und Wellen fallen lassen, ächzt der Inselorganismus.“ Ist Wöbses Analyse eine Ferienlektüre? Eher nicht. Ist sie eine Pflichtlektüre für alle, die denken, Naturschutz koste nur, verhindere zu viel und bringe nichts? Ja, unbedingt. Harff-Peter Schönherr

Anna-Katharina Wöbse: „Sylt. Die fragile Schönheit. 100 Jahre Naturschutz. Eine Inselgeschichte“, KJM-Buchverlag, Hamburg 2023, 260 S., 22 Euro