Soll die Politik das Volk befragen dürfen?

Volksentscheide, aber vom Abgeordnetenhaus auf den Weg gebracht: Diesen Vorschlag hat vor Kurzem die SPD-Fraktion lanciert. Unsere beiden Autoren bewerten das sehr unterschiedlich

Sollen sie  – und die übrigen BerlinerInnen – die Unbebaubarkeit des Tempelhofer Feldes rückabwickeln? Foto: Pierre Adenis

Geht es nach dem Willen der SPD-Fraktion, dann sollen Volksentscheide in Berlin künftig auch „von oben“, konkret: vom Abgeordnetenhaus angestoßen werden können.

Bislang wird ein Volksentscheid grundsätzlich „von unten“ initiiert, nach einem mehrstufigen Volksbegehren und umfangreichen Unterschriftensammlungen. Der SPD geht es mit dem zusätzlichen Instrument eines vom Parlament ausgehenden Volksentscheids darum, den Berliner:innen „mehr Mitsprache und echte Entscheidungen zu ermöglichen“.

Um das Instrument einzuführen, braucht es, so die SPD, keine Verfassungsänderung. Laut einem Gutachten des Wissenschaftlichen Parlamentsdienstes, auf das sich die SPD bezieht, reicht für eine „konsultative Volksbefragung“ ein mit einfacher Mehrheit beschließbares Gesetz. Eine Volksbefragung ist indes etwas anderes als ein Volksentscheid, nämlich komplett unverbindlich.

Erstmals könnte eine solche Befragung die Randbebauung des Tempelhofer Feldes betreffen. SPD und CDU drängen seit Langem darauf, das 2014 per erfolgreichem Volksentscheid angenommene Gesetz zum Erhalt des ehemaligen Flugfeldes erneut zur Abstimmung zu stellen. (taz)

Ja

Bei strittigen Entscheidungen vorab die Bevölkerung zu befragen, vermeidet Stress und Ausgaben

Von Stefan Alberti

Volksentscheide, die in Folge eines Volksbegehrens abgehalten werden, haben in Berlin ein entscheidendes Manko: Mit ihnen lässt sich nur sehr verzögert auf ein Vorhaben reagieren. Wenn heute eine Mehrheit gegen ein aktuelles Projekt der Regierung wäre, könnte sie auf diesem Weg bei normalem Verlauf erst in zwei Jahren darüber abstimmen und eine Korrektur erzwingen. In diesen zwei Jahren aber – in denen in zwei Stufen Unterschriften zu sammeln sind – können schon viele, viele Millionen in ein Projekt geflossen, Verträge geschlossen, Verpflichtungen eingegangen sein, die – wenn überhaupt – nur teuer rückgängig zu machen sind.

Dass es einen Vorlauf gibt, hat seinen guten Grund: Könnte jede Initiative schon für den nächsten Sonntag einen Volksentscheid anmelden, würde das absehbar zu Abstimmungsmüdigkeit führen und damit letztlich das Instrument eines Referendums entwerten.

Anders verhält es sich beim Abgeordnetenhaus: Dessen Mitglieder sind per Wahl legitimiert, nach dem Prinzip der repräsentativen Demokratie Entscheidungen zu treffen. Könnte das Landesparlament künftig entscheiden, das Ja oder Nein für ein politisches Projekt punktuell in die Hände aller Wahlberechtigten zu legen, und von sich aus weit kurzfristiger ein Referendum ansetzen, dann wäre die eingangs skizzierte zeitliche Lücke geschlossen.

Wie dringend das ist, zeigt beispielhaft die Debatte über eine Olympiabewerbung. Eine Volksabstimmung ist sinnig, bevorsich das Land bewirbt. Bei einem in zwei Jahren dräuenden Volksentscheid erledigt sich das Thema von selbst, auch wenn die Stimmung im Land olympiafreundlich ist: Niemand vergibt die Spiele an einen Ort, an dem noch ein Referendum darüber aussteht.

Klaus Wowereit, dem SPD-Vor-Vor-Vorgänger von Regierungschef Kai Wegner (CDU), schwebte schon 2014 vor, dass der Senat die Möglichkeit haben sollte, bei grundsätzlichen Fragen direkt die Wählerschaft zu befragen. Das würde also passieren, solange der Stein noch nicht in den Brunnen gefallen sei, so formulierte er es einmal in einem Gespräch mit der taz. Der Senat, das sind aktuell allerdings nur elf Leute, nämlich Wegner und zehn weitere Mitglieder. Da ließe sich sagen: Hmmm, bisschen viel Macht in der Hand einiger weniger, wenn die allein ein Referendum ansetzen könnten.

Der aktuelle Vorstoß der SPD-Fraktion legt die Sache denn auch breiter an: Nicht der Senat, sondern das Landesparlament mit seinen aktuell 159 Mitgliedern soll darüber entscheiden, ob ein Referendum anzusetzen ist oder nicht. 159 Abgeordnete also, von denen 78 direkt in ihren Wahlkreisen gewählt wurden und nicht über die Kandidatenlisten ihrer Parteien ins Parlament gerückt sind. Menschen also, die jeweils ein Mandat bekommen haben, stellvertretend Entscheidungen zu treffen.

Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Parlamentsdienstes hielt schon 2015 ein vom Senat auszulösendes Referendum sogar ohne Verfassungsänderung für möglich. Einzige größere Einschränkung: Die Landesregierung dürfe nicht mit Haushaltsmitteln selbst für Zustimmung werben und müsse sich Zurückhaltung auferlegen.

Nicht wirklich nachvollziehbar ist, wieso es bei Kritikern des Projekts – bei den Grünen, der Linkspartei oder dem Verein „Mehr Demokratie“ – so viel Skepsis gegenüber dem SPD-Vorstoß gibt. Denn ganz egal, ob am Ende eine Initiative, der Senat oder aber das Parlament ein Referendum anstößt: Die Entscheidung trifft in jedem Fall die Wählerschaft.

Nein

Von oben verordnete Bürgerbeteiligung kaschiert eine anmaßende Haltung der Regierenden

Von Hanno Fleckenstein

„Vorsicht, Falle!“ – dieser Warnhinweis sollte groß und rot auf dem SPD-Vorschlag zu vom Parlament verordneten Volksbefragungen prangen. Denn der Plan, die Ber­li­ne­r*in­nen an die Urnen zu bitten, wenn die Koalition ein geltendes, durch einen Volksentscheid erkämpftes Gesetz umstoßen will, ist nichts anderes als ein billiges Täuschungsmanöver.

Auf den ersten Blick klingt es eigentlich ganz charmant: Die Bür­ge­r*in­nen sollen mitreden dürfen bei „Entscheidungen, die unmittelbar ihre Lebenswirklichkeit betreffen“, so die SPD-Fraktion. Es gehe um „Respekt“ vor der Volksgesetzgebung, „mehr Mitsprache und echte Entscheidungen“. Die Sozialdemokraten glauben gar, so der „Politikverdrossenheit“ begegnen zu können.

Die Logik dahinter ist verfänglich: Mehr Bür­ge­r*in­nen­be­tei­li­gung ist immer gut! Auf diesen Trugschluss setzt die schwarz-rote Koalition. Doch eine Volksbefragung von Gnaden der Herrschenden hat wenig bis gar nichts mit direkter Demokratie zu tun. Erst recht nicht, wenn sie dazu dient, direktdemokratisch herbeigeführte Entscheidungen wieder zu kassieren – und dem Ganzen einen schönen Anstrich zu verpassen.

Bislang gibt es in Berlin nur Volksentscheide, die in einem mehrstufigen, aufwändigen Beteiligungsverfahren von „unten“ – also aus der Stadtgesellschaft – herbeigeführt werden. Die Hürden für eine vom Abgeordnetenhaus verordnete Volksbefragung lägen wohl deutlich niedriger. Und so täuscht ein solches Verfahren den Bür­ge­r*in­nen Mitspracherechte und Handlungsmacht vor, während es den Regierenden noch mehr Macht verleiht.

Nun entdecken SPD und CDU das Thema direkte Demokratie ausgerechnet in dem Moment für sich, in dem der Volksentscheid von 2014 ihren Bebauungsfantasien für das Tempelhofer Feld im Weg steht. Klar, eigentlich könnten sie das Gesetz zum Erhalt des Feldes wie jedes andere auch im parlamentarischen Verfahren ändern. Warum dann überhaupt der Vorstoß für eine Volksbefragung?

Ganz einfach: Die von oben verordnete Bürgerbeteiligung kaschiert die anmaßende Haltung der Regierenden, die als gewählte Volksvertreter nach dem Motto arbeiten: Wir wissen es eh besser und machen, was wir wollen! Wie blanker Hohn klingt da das Argument der SPD-Fraktion für die Volksbefragung: „Wir wissen, dass Teile der Bevölkerung sich nicht ernst genommen fühlen und mehr Mitsprache wollen.“

Um glaubwürdig für mehr und bessere Beteiligung einzutreten, sollte die Koalition sich besser nicht an von der Stadtgesellschaft erkämpftem Freiraum vergreifen – und dabei auch noch selbst bestimmen wollen, wann es ihr passt, dass die Ber­li­ne­r*in­nen mitreden.

Nicht ohne Grund gibt es Zweifel, ob die Einführung einer Volksbefragung ohne Zweidrittelmehrheit nicht gegen die Landesverfassung verstößt. In Bayern hat der Verfassungsgerichtshof 2016 einem ähnlichen Vorhaben den Riegel vorgeschoben. Außerdem besagt die Berliner Verfassung, dass jede Einführung neuer direktdemokratischer Instrumente einer Volksabstimmung bedarf.

In Hamburg hat man es besser gelöst: Will das Parlament dort ein per Volksentscheid beschlossenes Gesetz ändern oder aufheben, kann die Bevölkerung eine Abstimmung darüber anstoßen. Die Hürde dafür ist nur halb so hoch wie für einen Volksentscheid – und das Ergebnis rechtlich bindend. So bleibt die Handlungsmacht zumindest in Teilen dort, wo sie hingehört: bei den Be­woh­ne­r*in­nen der Stadt.