Der Mäzen will keinen Mittelweg

Das renommierte Hamburger Institut für Sozialforschung und sein Verlag Hamburger Edition schließen 2028. Das teilte Gründer Jan-Philipp Reemtsma überraschend mit. Bekannt geworden war das Institut Mitte der 90er-Jahre durch die Wehrmachtsausstellung

Jan-Philipp Reemtsma 2004 in der vom Institut entwickelten Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944“ Foto: Maurizio Gambarini/dpa

Von Robert Matthies
und André Zuschlag

Sein 40-jähriges Bestehen feiert das international renommierte Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) dieses Jahr, indem es in einer Vorlesungsreihe einen seiner Schwerpunkte in den Fokus rückt: die Gewaltforschung. „Im Nebel des Krieges“ ist die diesjährige Reihe betitelt, Thema ist die Rückkehr kriegerischer Auseinandersetzungen in Europa. Die Forschung, heißt es in der Ankündigung, müsse „sich die Frage gefallen lassen, inwiefern es einer ‚Zeitenwende’auch in der sozialwissenschaftlichen Erklärung kriegerischer Gewalt bedarf.“

Das HIS selbst, das die Diskussion so sehr geprägt hat, wird sich mit dieser sozialwissenschaftlichen Zeitenwende aber nur noch drei Jahre beschäftigen können. Denn der Literatur- und Sozialwissenschaftler, Publizist und Mäzen Jan Philipp Reemtsma, der das Institut mit 40 Mit­ar­bei­te­r:in­nen am Hamburger Mittelweg 36 vor 40 Jahren als gemeinnützige Stiftung öffentlichen Rechts gründete, um aufklärendes Denken über Gesellschaft und Individuum zu fördern, will es 2028 schließen. Dann endet der Vertrag des jetzigen Direktors, des Soziologen Wolfgang Knöbl. Zuerst hatte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) berichtet.

Als Grund gibt der 71-jährige Reemtsma in einer Mitteilung des Instituts an, dass er zu alt sei. Bis Ende März 2015 war Reemtsma Stiftungsvorstand und Leiter des Instituts, das er nahezu vollständig finanziert. 2016 übernahm der Gewaltforscher Knöbl den neu geschaffenen Posten eines Direktors und bestimmte seitdem die Forschungspolitik. Reemtsmas Rolle des Vorstands beschränkte sich seitdem darauf, den Etat zu besprechen und zu genehmigen. Das sei ihm aus Altersgründen nun nicht mehr möglich.

Eine Übernahme durch ein anderes Institut schließt Reemtsma indes aus. Dadurch verlöre das HIS Unabhängigkeit von forschungspolitischen Trends und die Fähigkeit, eine eigene Agenda zu setzen. „Da es nicht die Intention des Stifters war noch ist, ein beliebiges sozialwissenschaftliches Institut unter der Leitung oder Observanz irgendeiner anderen Forschungseinrichtung zu gründen, wird das Hamburger Institut für Sozialforschung im Jahre 2028 seine Arbeit einstellen“, schrei­ben Reemtsma und Knöbl.

Schluss sein soll damit 2028 auch mit dem 1994 gegründeten instituts­eigenen Verlag Hamburger Edition und der zweimonatig herausgegebenen Fachzeitschrift Mittelweg 36. Unklar ist, was aus der Bibliothek des Hauses und dem umfangreichen Archiv des Institutes werden soll, das vor allem wegen der rund 2.000 Regalmeter zu „Protest, Widerstand und Utopie in der Bundesrepublik Deutschland“ eine Besonderheit ist. Seit 2015 betreibt das HIS zudem die unabhängige Internetplattform „Soziopolis“. Das digitale Forum gilt als eines der wichtigsten in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften.

Reemtsma, Sohn des Zigarettenfabrikanten Philipp Fürchtegott Reemtsma und dessen zweiter Ehefrau Gertrud, gründete das Institut 1984 in Hamburg mit Mitteln aus seinem Erbe. 1980 hatte er seine Anteile an den Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH an Tchibo verkauft und hat seitdem keine Verbindungen mehr zur Firma. Reemtsma zählt mit einem Vermögen von rund 700 Millionen Euro zu den reichsten Deutschen.

Bundesweit für Furore sorgte das Institut ab Mitte der 1990er-Jahre mit den vom Historiker Hannes Heer initiierten und von Heer und den Historikern Bernd Boll, Walter Manoschek und Hans Safrian entwickelten sogenannten Wehrmachtsausstellungen: die Wanderausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“, die von 1995 bis 1999 zu sehen war, sowie die überarbeitete Wanderausstellung „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944“ von 2001 bis 2004. Beide Ausstellungen machten die Verbrechen der Wehrmacht vor allem im Krieg gegen die Sowjet­union einer breiten Öffentlichkeit bekannt und sorgten jahrelang für Kontroversen.

Wegen zunehmender Kritik von Historikern an der ersten Ausstellung zog Reemtsma sie Ende 1999 vorläufig zurück und beauftragte eine Historikerkommission mit einer Überprüfung. Reemtsma schloss Heer, der keine Neufassung wollte, im Sommer 2000 von der Leitung und der weiteren Mitarbeit an der Ausstellung aus. Die Kommission bescheinigte der Ausstellung zwar sachliche Fehler, Ungenauigkeiten und Flüchtigkeiten bei der Verwendung des Materials. Sie habe außerdem durch die Art der Präsentation zu pauschale und suggestive Aussagen getätigt. Die Grundaussage „über die Wehrmacht und den im ‚Osten’ geführten Vernichtungskrieg“ sei aber richtig.

Eine Übernahme durch ein anderes Institut schließt Reemtsma aus. Dadurch verlöre es Unabhängigkeit von forschungs­politischen Trends

Als Sozialwissenschaftler hat sich Reemtsma selbst immer wieder zu Wort gemeldet, hat unter anderem eine Theorie der Gewalt entwickelt, die Phänomene der Gewalt in ihrem unterschiedlichen Körperbezug und in ihrem Verhältnis zur Ausübung von Macht gesellschaftstheoretisch untersucht. Gewalt hatte Reemtsma selbst erfahren müssen: Am 25. März 1996 wurde er Opfer einer Entführung, erst einen Monat später wurde er gegen die Zahlung von 30 Millionen DM Lösegeld freigelassen. Die Entführung, Gefangenschaft und Befreiung schildert und reflektierte Reemtsma 1997 in seinem Buch „Im Keller“.

Wie die Hamburger Wissenschaftsbehörde auf das angekündigte Aus reagiert, bleibt zunächst unklar: Eine Anfrage der taz, was das Ende des HIS für den Wissenschaftsstandort Hamburg bedeutet und ob nicht eine Rettung des Instituts im Sinne der Wissenschaftsvielfalt wünschenswert sei, blieb am Montag unbeantwortet.

Reemtsma und Knöbel wollen die Entscheidung kommende Woche erklären und sich Fragen stellen.