großraumdisco
: Silvester in der guten Stube der Avantgarde

Die Friese gilt als Bremens exklusivste Adresse für Untergrundkonzerte – für manche war das dortige Silvesterkonzert eine reine Familienangelegenheit

Silvester hat ja ein ziemliches Nervpotenzial. Natürlich wegen der Böller, aber auch nicht nur. Das Amüsiergebot, der kalendarisch oktroyierte Termin, der für einen Neubeginn stehen soll, der in der schäbigen Realität – wenn überhaupt – höchstens ein steuerrechtlicher ist, solche Dinge eben. Und natürlich auch die allgegenwärtige Frage: „Und? Was machst du an Silvester?“

Die konnte ich in diesem Jahr zu meiner Zufriedenheit beantworten: Konzert in der Friese. In direkter Nachbarschaft zur früher an Silvester schon traditionell krawallumtosten Bremer Sielwallkreuzung, zur Bordellstraße und diversen mehr oder weniger räudigen Kneipen, ist die Friese eine Oase der nichtkommerziellen Kultur. Der Ort wirkt von außen eher unscheinbar, aber er ist eine enorm wichtige Einrichtung auch für Menschen, die davon noch nie gehört haben mögen.

Hier proben Bands wie Mörser, die weltweit in der Hardcoreszene einen guten Ruf genießen. Hier traten die Sleaford Mods bei ihrer ersten Deutschlandtour auf, die Drone-­Metal-Ikonen Sunn O))) brachten die Nachbarschaft zum Beben, ­Idris Ackamoors Pyramids waren hier, bevor ihr Comeback sie in größere Hallen und auf illustre Festivals brachte.

Aber auch als Ort für marginalisierte Szenen ist das selbstverwaltete Freizeitheim kaum wegzudenken aus der Stadt. Regelmäßig gibt es hier Konzerte internationaler Harcorepunkbands, die gegen Kapitalismus, Nazis, Sexismus und multina­tio­nale Konzerne pöbeln. Das Bier kostet ein paar Euro, Ohrstöpsel sind gratis.

Dass solche Orte nicht nur immer wieder durch staatliche Sparprogramme gefährdet sind, sondern auch durch politische Gegner, erwies sich vor knapp vier Jahren: In der Nacht vom 15. auf den 16. Februar 2020 hatte es während eines Konzerts einen Brandanschlag auf das Freizeitheim gegeben, die Täter kommen allem Anschein nach aus der rechtsradikalen Szene. Noch ermittelt die Polizei, es entstand ein Sachschaden von 200.000 Euro, mehrere Personen erlitten Rauchvergiftungen. Danach war erst mal Schluss mit Veranstaltungen, die Coronapandemie verlängerte die Konzertpause.

Nach der Zwangspause gehen die Dinge in der Friese nun schon seit einer Weile einigermaßen ihren gewohnten Gang. Silvester gehörte allerdings normalerweise nicht zu den Terminen im Kalender. Aus Gründen: Im Steintorviertel ist erst recht zum Jahreswechsel ein Publikum unterwegs, das sich nicht so sehr um Untergrundmusik schert. Deswegen fehlt an diesem Abend auch der Aufsteller, der normalerweise vor der Tür auf Veranstaltungen hinweist.

Und das Publikum besteht im Wesentlichen aus Eingeweihten. Freunden und Freundinnen der Familie sozusagen. Und so passten alle auf den Balkon im ersten Stock, wo um Mitternacht Crémant ausgeschenkt wurde.

Die Friese in Bremen

Etwas versteckt in einer Seitenstraße des Bremer Szeneviertels, ist das selbstverwaltete Jugend­zentrum die erste Adresse der Stadt, wenn es um härtere Experimentalmusik geht. Bei Tageslicht ist das Gebäude in der Friesen­straße 124 Treffpunkt für Jugendliche, Freischrauber-Selbsthilfe, probende Bands und andere Gruppen.

Vorher hatten Sisto Rossi und Christoph Heemann musiziert. Heemann war zwischen 1983 und 1993 eine Hälfte der Band Hirsche nicht aufs Sofa (HNAS), arbeitete später mit Größen wie Merzbow, Jim O’Rourke, Tony Conrad und Nurse With Wound zusammen. Der Wahlhamburger Rossi gehört zur Wahlfamilie der Neokrautrockband Datashock und veröffentlicht seine vielschichtigen Noise-Exerzitien mit Vorliebe auf Kassette.

Die Böller draußen fügen sich derweil fein in die faszinierenden Klangmassive ein, die Rossi und Heemann in ihren jeweils etwa 30-minütigen Sets aufbauen. Und weil das nun wirklich keine Musik ist, die zum Tanz einlädt, ist der Saal gleich bestuhlt. Geraucht und gequatscht wird auf dem Hof; Künstler, Publikum, Veranstaltende – das spielt beinahe keine Rolle. In den Pausen legen Aktive der Chinesischen Wäscherei auf, aber auch eine Gesandtschaft des Kulturbunkers ein paar Straßen weiter.

Das Publikum besteht aus Eingeweihten. Freun­d:in­nen der Familie sozusagen

Die Musik schillert in den schönsten Farben, Afrika ist auf jeden Fall mit drin, Südostasien vermutlich. Ab und zu kommen Erinnerungen hoch an jene Februarnacht vor vier Jahren. Gut, dass es wieder weitergeht. Und schön, dass es diesen Ort manchmal auch an Silvester gibt. Andreas Schnell