Der Fall Geipel und Gesinnungskämpfe: Doping und Prawda
Mit der Wahrheit nimmt es DDR-Leistungssportlerin und Anti-Doping-Kämpferin Ines Geipel nicht genau. Kritiker werden diskreditiert. Ein Gastbeitrag.
Vor fast einem Jahr strahlte der MDR eine spektakuläre Dokumentation aus: „Doping und Dichtung. Das schwierige Erbe des DDR-Sports“. Der harmlose Titel galt einer 45-minütigen Abrechnung mit der ehemaligen Leistungssportlerin und unerbittlichen Aufarbeiterin Ines Geipel. Sie hatte es abgelehnt, an dem Film mitzuwirken. Nach der Ausstrahlung legte sie Programmbeschwerde ein – vergeblich.
Der Film fasste zusammen, was andere auch bereits recherchiert hatten: Geipel neigt zu Übertreibungen, vernebelt ihre Biografie und rechnete die Opferzahlen des DDR-Staatsdopings immer mehr nach oben. Das hatte Konsequenzen, immer mehr einstige DDR-Hochleistungssportler wurden so zu vermeintlichen Opfern einer Dopingpraxis, von der sie angeblich nichts wussten.
Natürlich sprangen Ines Geipel – wie immer – einige Medien zur Seite. Allen voran Anno Hecker von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der unter offenkundiger Ignoranz vorliegender Dokumente jede Kritik an Geipel zurückweist und stattdessen Kritiker wie den jüngst verstorbenen Anti-Doping-Kämpfer Henner Misersky verunglimpft. Auf die Programmbeschwerde von Geipel folgte Ende August ein 100-seitiger „Faktencheck“, den der MDR in Auftrag gegeben hatte.
Diese von zwei unabhängigen Autoren verfasste Analyse zerpflückte Geipels Behauptungen und belegte, dass die MDR-Dokumentation mit allem richtig lag. Dieses mir bekannte Papier ist nicht veröffentlicht worden, sondern stand nur den MDR-Gremien zur Verfügung. Da sich die Geipel-Apologeten von Fakten nicht beirren lassen, würde sich ohnehin nichts ändern.
Aufgekündigte Freundschaft
Als frühere und jetzige Gremienmitglieder der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur der Geschäftsführerin der Stiftung diesen Bericht überspielten und sie baten, ihre kritiklose Unterstützung Geipels zu überdenken, antwortete sie, das komme für sie nicht infrage, man könne auch in so manchen Punkten gegenteilig Stellung nehmen.
Es geht schon längst nicht mehr um Fakten, wie dieses Beispiel andeutet. In der kleinen, heftig zerstrittenen Aufarbeitungsszene ist der „Fall Geipel“ nur ein Seismograf für Gesinnungskämpfe. Nachdem der Historiker Rainer Eckert mit seinem Buch „Umkämpfte Vergangenheit“ in diesem Jahr – zunächst war das Erscheinen verhindert worden – Kritik übte, traf ihn der Bannstrahl.
In meinem Buch „Die Übernahme“ stellte ich 2019 die Frage, ob jeder gedopte DDR-Sportler damit auch ein Opfer gewesen sei. Ich schrieb: „Unstrittig ist, dass Kinder und Jugendliche, die gedopt wurden, Opfer sind und entschädigt werden müssen. In der DDR war Doping unter der Hand Gesprächsstoff. Manche Eltern haben ihre Kinder aus den Leistungszentren genommen, um Doping zu verhindern. Was aber ist mit Erwachsenen, die dopten? Sind das auch Opfer des Systems?“ Meine Antwort: „Ich finde, Erwachsene sollten auch wie Erwachsene behandelt werden. Man wird nicht zum Opfer, wenn man etwas sehenden Auges mitmachte, um einen Vorteil zu erlangen.“
Diese Passage nahm Ines Geipel zum Anlass, mir ihre Freundschaft zu kündigen. Sie brachte es fertig, mich im Deutschlandfunk als eine Person zu bezeichnen, die auf dem analytischen Niveau eines Egon Krenz agiere. Damals ahnte ich nicht, welche Verbündeten Geipel hinter sich weiß: Redakteure im Deutschlandfunk, Journalisten der Neuen Zürcher Zeitung, freischaffende Reporter, Angestellte und Funktionäre der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur oder die Sportredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Geipels politische Verbündete
Egal, was auch immer gegen Geipel zuletzt vorgetragen wurde, sofort war diese Allianz in Verbindung mit Angestellten der Freien Universität Berlin, die wie verblendete K-Grüppler agieren, zur Stelle, um jeden Vorwurf zurückzuweisen.
Geipel hatte stets auch politische Verbündete. Die Entschädigungen für Dopingopfer hat sie maßgeblich mit CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten durchgesetzt. Meine langjährige Freundschaft mit Werner Schulz (Grüne) ging in die Brüche, weil wir uns wegen Geipel erbarmungslos zerstritten. Es war schon erschütternd, dass Werner Schulz im Schloss Bellevue am 9. November 2022 auf der Toilette zusammenbrach und verstarb, als ausgerechnet ich zur gleichen Zeit im Saal einen Vortrag über das Jahr 1989 hielt.
Die toxische Kraft der einstigen Hochleistungssportlerin hat mittlerweile unzählige Verbindungen gekappt. Als eine Gruppe Ostdeutscher zum 30. Jahrestag des Mauerfalls eine Sonderausgabe der Welt gestaltete und Ines Geipel dabei grobe Fehler unterliefen – sie verzehnfachte kurzerhand die Zahl minderjähriger Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) –, wies Marianne Birthler, langjährige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Geipel bei einem privaten Abendessen darauf hin. Geipel meinte sinngemäß deswegen zu Birthler, ob sie jetzt wohl auch „auf der anderen Seite“ stehe.
Dieses Muster ist bekannt: Wer diese Aufarbeiter kritisiert, muss damit rechnen, als Verharmloser der DDR und des Kommunismus hingestellt zu werden. Sie wähnen sich auf einer Mission, bei der es keine Differenz mehr zwischen Person und Aufgabe gibt, sondern beides kongruent zusammenfällt.
Ungereimtheiten in der Biografie
Bei Geipel kommt hinzu, dass sie eine DDR-Biografie aufweist. In den letzten Jahren kamen immer mehr Ungereimtheiten zutage. So hat sie jahrelang ihre SED-Vergangenheit verheimlicht und fing dann an, diese zu verharmlosen. Natürlich war allen Insidern klar, dass Hochleistungssportlerinnen um des Sieges Willen so ziemlich alles in Kauf nehmen. Auch Ines Geipel hätte mit allem offen umgehen können, niemand hätte ihr daraus einen Vorwurf machen können. Stattdessen konstruierte sie eine Biografie, die erkennbar viele Ungereimtheiten aufweist.
So bezog auch sie eine Dopingopferentschädigung, obwohl sie Ende der 1990er Jahre einräumte, wissentlich gedopt zu haben. Medienwirksam ließ sie sich aus einer „Weltrekordliste“ streichen, obwohl es den Weltrekord nicht gab. Mehrfach behauptete sie, aus politischen Gründen nicht ins Olympiateam aufgenommen worden zu sein, obwohl es gar kein Olympiateam wegen des Boykotts der Spiele 1984 gab. Außerdem sei ihr auf Betreiben des MfS die Bauchdecke zerschnitten worden, damit ihre Karriere zu Ende sei. Tatsächlich lief sie nach dieser OP noch Rennen und wurde 1985 in allen Ehren öffentlich aus der Nationalmannschaft verabschiedet.
Warum Geipel nie gegen die Ärzte, die sie operierten, Strafanzeige stellte, ist ebenso unklar wie der Umstand, dass es gegen sie nie einen Operativen Vorgang (OV) des MfS gab. Warum das wichtig ist? Weil nur im Rahmen eines solchen OV vergleichbare Zersetzungsmaßnahmen geplant und umgesetzt worden sind. Was in den Unterlagen des MfS über Geipel wirklich steht, weiß niemand außer sie selbst, weil Geipel die Akten gesperrt hat.
Das ist ihr gutes Recht. Andere wie Wolf Biermann, Rainer Eppelmann, Ralf Hirsch, Gerd Poppe, Ulrike Poppe oder weitere handhaben das anders und geben alles für die Forschung frei. Daran muss sich niemand orientieren. Aber steht das jemandem gut zu Gesicht, der gleichzeitig als radikale Stimme der Aufarbeitung in der Öffentlichkeit gilt, von allen Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und Offenheit verlangt?
Diskreditierung eines Anti-Doping-Kämpfers
Bei Geipel kommt hinzu, dass ihre Lobby mit unfairen Mitteln arbeitet. Der Verfasser dieser Zeilen wird etwa von einer Truppe Geipel-Anhänger mit strafrechtlich relevanten Vorwürfen in der Öffentlichkeit überhäuft – angeblich hätte ich die öffentlich unbekannte Stasi-Akte über Geipel an die Öffentlichkeit „gezogen“ und verbreitet, obwohl nachweisbar ist, dass ich weder Zugang zu dieser Akte hatte noch zur fraglichen Zeit überhaupt in der Behörde arbeitete.
Dem kürzlich verstorbenen Anti-Doping-Kämpfer Henner Misersky, der dafür in die Hall of Fame des Sports aufgenommen wurde, ruft diese Truppe nun nach, er sei gar kein Ehrenmann gewesen. Warum? Weil er in Prozessen gegen Geipel gesiegt hatte.
Auch künftig werden sich an Ines Geipel die Geister scheiden. Einer offenen Gesellschaft ist das nicht abträglich. Allerdings sollten ihre Verteidiger ein Mindestmaß an Seriosität bewahren und Fakten akzeptieren. Vielleicht entschließt sich der MDR, den „Faktencheck“ zu veröffentlichen, dann kann sich jeder selbst ein Bild machen.
Und Ines Geipel könnte ihren fraglos wichtigen und originellen Beitrag zur Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur leisten, ohne sich selbst dabei immer in den Mittelpunkt stellen zu müssen.
Der Autor ist Historiker mit dem Schwerpunkt Aufarbeitung der SED-Diktatur. Jüngst veröffentlichte er eine Biografie über Walter Ulbricht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ost-Preise nur für Wessis
Nur zu Besuch
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Etgar Keret über Boykotte und Literatur
„Wir erleben gerade Dummheit, durch die Bank“
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Verzicht auf Pädagogen in Bremer Kitas
Der Gärtner und die Yogalehrerin sollen einspringen
Grüne Parteitagsbeschlüsse
Gerade noch mal abgeräumt