Europäische Filmpreise in Berlin: Einander zuhören und verstehen

Bei den diesjährigen Europäischen Filmpreisen wurde Justine Triets mit gleich fünf Preisen geehrt. Die Filme spiegelten auch die europäische Krise.

Frau am Mikrofon

Justine Triet erhielt für ihren Film „Anatomie eines Falls“ fünf Preise Foto: Annette Riedl

Typisch europäisch gibt es nicht, zu viele Länder müssten man dafür in einen Topf werfen. Dennoch versuchen die Mitglieder der Europäischen Filmakademie jedes Jahr genau das: Filme zu finden, die den gesamten Kontinent bewegen.

Doch in der Diversität, vielleicht auch in Streit und Krise steckt eine Chance, jedenfalls für Kulturschaffende: „Zum Glück haben wir Filme, mit denen wir uns ausdrücken können“, so umschrieb es die polnische Regisseurin und Präsidentin der EFA, Agnieszka Holland, bei der Verleihung des Europäischen Filmpreises am Samstag in ihrer Begrüßungsrede.

Und „wir haben Kollegen und Mitglieder auf allen Seiten“, ergänzte der EFA-Vorstandsvorsitzende Mike Dow­ney, „und wollen ein Ort in Europa sein, an dem man reden, zuhören und versuchen kann, einander zu verstehen.“

Im Zuhören konnte man sich schon gut üben: Die Preisgala, die jährlich abwechselnd in Berlin (als Gründungsort der Akademie) und einer europäischen Stadt ausgerichtet wird, nahm sich traditionell eine Menge Zeit. Um kurz vor 23 Uhr wurde Justine Triets „Anatomy of a Fall“ zum European Film 2023 und damit – nach Beste Regie, Bestes Drehbuch, Beste Schauspielerin und Beste Montage – mit dem fünften Preis an diesem Abend ausgezeichnet.

Großartiges Gerichtsdrama

Triets Film ist ein großartig gespieltes Gerichtsdrama um (verunfallten, suizidalen, oder herbeigeführten?) den Tod eines Mannes, dessen Gattin (Sandra Hüller) beschuldigt wird, ihn umgebracht zu haben. Misogynes Misstrauen gegenüber einer scheinbar „kalten“ Frau spielt genauso eine Rolle wie Eifersucht zwischen den als Romanautoren unterschiedlich erfolgreichen Eheleuten.

„Ich wollte den Zerfall einer Beziehung untersuchen und habe viel von meinen eigenen Erfahrungen hineingesteckt“, erklärt Triet, die das Buch mit ihrem Ehemann Arthur Harari schrieb. „Ich lebe aber noch, ganz sicher!“, beruhigte Harari per Video zugeschaltet von der Leinwand der Treptower Arena.

Dass Sandra Hüller in der Schauspielkategorie gegen sich selbst antrat, weil sie auch für ihre Rolle als Hedwig Höss in „The Zone of Interest“ nominiert war, verwundert nicht: Hüller kann alles, und das mit Grandezza und Selbsttreue.

Dennoch hätte man Jonathan Glazers überragendem, mehrfach nominiertem Film, der das Leben des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höss an der Mauer zum KZ beschreibt, mehr als den verdienten Preis für den besten Sound gewünscht. Denn in der fiktional-filmischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust gab es bislang kein Werk, das so konsequent die Opfer schützt und dabei so sehr berührt. Glazers Entscheidung, die Pein der Leidtragenden allein über die Tonebene zu erzählen, ist fast eindringlicher als Bilder von (fiktionalisierten) Opfern – Ton wirkt unmittelbarer als Bild.

Katastrophe und Streit

Die Regisseurin des körperpolitischen und feministischen Dokumentarfilmgewinners „Smoke Sauna Sisterhood“, Anna Hints, brachte das Publikum mit einem Call-and-Response-Lied zum Mitsingen. Auch der Prix Fipresci der internationalen Filmkritik ehrte einen feministischen Film: In „How to Have Sex“ findet Regisseurin Molly Manning Walker authentische Bilder für Diskurse um Deutungshoheit und die Definition von sexuellen Übergriffen.

Und auch das ist typisch europäisch: „We bonded over a piece of Brecht“, sagte EFA-Vorstand Downey ernst in seiner Laudatio auf den ungarischen Ehrenpreisempfänger Béla Tarr, während dessen schwarzweiße Bilder über die Leinwand liefen. Lustig ist es wahrlich gerade nicht in Europa. Dafür stehen fast sämtliche nominierten Filme: In der Vergangenheit liegt die Katastrophe, in der Gegenwart der Streit. Immerhin – gemeinsam feiern ging später doch noch ganz gut.

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