das wird
: „Jeden Wald als Individuum betrachten“

Hans Jürgen Böhmer möchte die Debatte um Wälder versachlichen

Interview Robert Matthies

taz: Herr Böhmer, Ihr Buch heißt: „Beim nächsten Wald wird alles anders“. Was ändert sich denn?

Hans Jürgen Böhmer: Manches wird sich ändern, aber natürlich wird nicht alles anders beim ‚nächsten Wald‘. Der Titel ist zweideutig und ironisch. Ich war lange Zeit im Ausland und kam vor ein paar Jahren nach Deutschland zurück und mir ist aufgefallen, dass die Walddebatte hier komisch aufgeregt und ideolo­gielastig war. Ich versuche, einen kleinen Beitrag zur Versachlichung der Debatte zu leisten.

Die zweite Bedeutung des Titels ist: Wenn man sich den nächsten Wald anschaut, ist es anders als beim letzten. Jeder Wald hat seine eigene Geschichte?

Jeder Wald ist als Individuum zu betrachten. Wir haben in Deutschland Hunderte verschiedene Naturräume, in denen entsprechend ­unterschiedliche Lebensbedingungen für die Baum­arten bestehen und in denen sich der Klimawandel auf unterschiedliche Weise auswirkt. Das muss man für jeden Wald individuell betrachten. Die pauschale Aussage, dass der deutsche Wald stirbt, ist Blödsinn, denn den deutschen Wald gibt es nicht. Es gibt eine unglaubliche Vielfalt verschiedener Wälder und Waldstandorte, es gibt eine Vielfalt von Waldbewirtschaftungsformen. Und jede Baumart reagiert auf den Klimawandel so individuell, wie ein Fingerabdruck ist. Wir brauchen eine viel differenziertere und ideologiefreie Walddebatte.

Foto: Christian Platz

Hans Jürgen Böhmer

ist Vegetations- und Landschaftsökologe und seit 2022 Professor für Geobotanik an der Leibniz Universität Hannover.

Eines Ihrer Beispiele ist die Rede vom Waldsterben in den 1980er-Jahren. Da ging es um sauren Regen, aber der Wald hat sich erholt. Heute spricht man vom Waldsterben 2.0. Wo liegt der Unterschied?

In den beiden extrem trockenen Jahren 2018 und 2019 war Waldsterben 2.0 der Begriff, der die Walddebatte geprägt hat. Viele Bäume starben ab, insbesondere Forstbäume. In den 1980er-Jahren­ sprach man vom sauren Regen, heute ist es der Klimawandel. Aber tatsächlich war es schon in den 1980ern überwiegend der Klimawandel, denn es herrschte ab dem extremen Dürrejahr 1976 die erste lange Trockenperiode, die wir hatten. Darauf waren unter anderem die in der Nachkriegszeit gepflanzten Forste nicht vorbereitet, insbesondere dort, wo die Bäume aus nicht standortgerechtem Saatgut gezogen wurden.

Das Problem ist also auch eine falsche ­Beforstung?

Vortrag

„Beim nächsten Wald wird alles anders – ein Ökosystem verstehen“: heute, 19 Uhr, Landesmuseum Hannover, Eintritt frei

Hans Jürgen Böhmer: „Beim nächsten Wald wird alles anders: Das Ökosystem verstehen“, Hirzel, 208 S., 24 Euro; E-Book: 21,90 Euro.

Die Fichte als unsere Haupt-Brotbaumart ist eine Baumart der höheren Mittelgebirge und der Alpen. Wenn sie die im Flachland pflanzen, sind die Bäume möglicherweise schon von Anfang an ein bisschen gestresst, weil sie da nicht hingehören. Wenn sich die Bedingungen dann verschlechtern, so wie jetzt im Klimawandel mit längeren und häufigeren Trockenperioden, dann sterben die auch mal ab. Aber letztendlich ist das Ausdruck einer verfehlten Wirtschaftsweise. Wenn man in Medien ein Bild eines toten Waldes sieht, muss man sich erst fragen: Was sehe ich eigentlich? Was ist das für ein Wald oder Forst? Gehört der da hin? Eigentlich müsste man fragen, wie es mit unseren Naturwäldern aussieht.

Geht es denen besser?

Ich habe noch keinen naturnahen Waldbestand in Deutschland absterben sehen. Was man natürlich in diesen extremen Trockenperioden sieht, ist, dass auch Buchen und Eichen vorzeitig Laub abwerfen. Aber eigentlich ist es nur eine gesunde Reaktion auf Dauerstress. Wenn der Stress nachlässt, geht es wieder besser, und dann hat der Baum irgendwann auch wieder mehr Laub. Eigentlich ist es so einfach: Wir müssen uns Land für Land und Naturraum für Naturraum anschauen. Dann kommen wir erst mal zu dem Schluss: Es gibt Wälder, die haben größere Probleme, und es gibt Wälder, die haben weniger Probleme. Aber grundsätzlich gilt: Wir brauchen eine größere Baumartenvielfalt und wir brauchen mehr natürliche Dynamik und ­Strukturen im Forst.