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Die WahrheitDachs ohne Duselei

Im Waldkindergarten „Wolfsschänzchen“ werden einsame Kinder aufgefangen und ans harte Waldleben unter Wölfen und Bären herangeführt.

Überleben im Wald schweißt „die Schänzler“ zusammen Foto: Reuters

Vorsichtig streckt ein Mädchen seinen Kopf aus der Erdhöhle und nimmt Witterung auf. Dann springt die Kleine aus dem Loch und verschwindet im Brombeerdickicht, kurz danach schlüpfen zwei weitere Vorschulkinder aus dem Bau und heften sich an die Fersen des Leitkinds.

Die Kinder der Alpha-Gruppe des Waldkindergartens „Wolfsschänzchen“, der sich im Unterholz eines Waldstücks im Nordhessischen versteckt, jagen im Rudel. Bislang erlegen sie meist Eichhörnchen und Hasen, manchmal einen altersschwachen Dachs. Aber auch Aas von der nahegelegenen Bundesstraße verschmähen die kleinen Racker nicht, erzählt die Leiterin der Einrichtung stolz.

In ihrem Erbforst will die Waid- und Freifrau Johanna von Harrer vor allem Großstadtkindern ein ganzheitliches Na­tur­er­leb­nis „ohne die übliche Gefühlsduselei“ bieten. Für die Eltern der Kinder gestaltet sich die Anmeldung in dem Waldkindergarten ebenso unbürokratisch wie abenteuerlich.

„Natürlich kostet es viele Menschen Überwindung, die eigenen Kinder nachts allein im Wald auszusetzen, aber gerade im Überleben steckt doch ganz viel Leben“, philosophiert die passionierte Wolfsanglerin. Natürlich hilft es der Einrichtung, dass besonders in Ballungsgebieten Kita-Plätze nur schwer zu ergattern sind und die Kinder oft an Raststätten landen, wenn Eltern beruflich stark belastet sind. Trotzdem warnt Forstpädagogin Harrer davor, Minderjährige auf eigene Faust in die Natur freizusetzen.

Kaspar-Hauser-Methode

„Nur gänzlich ungestört und unter geeigneter Supervision können sich Kinder wirklich frei entfalten. Wir arbeiten hier streng wissenschaftlich nach der Kaspar-Hauser-Methode“, sagt sie und verwischt mit dem Stiefel eine Fährte aus Brotkrumen, die aus dem Wald zu führen scheint.

Trotzdem ist die erlebnisdarwinistisch orientierte Pädagogik der lodentragenden Survivalistin nicht unumstritten. Elternverbände bemängeln die fleischlastige Verpflegung der Kinder, Tierschützer und Spaziergänger kritisieren die wenig waidgerechten Jagdmethoden.

„Was heißt hier jagen?“, verteidigt Johanna von Harrer ihre Schützlinge. „Bis sie herausbekommen, wie man Feuer macht und Werkzeuge herstellt, leben die Kinder von Beeren und Pilzen, im besten Fall von Maden und Insekten. Das ist gesunde proteinreiche Kost“, verteidigt sich die Pädagogin. „Maden fressen kannten die vorher höchstens aus dem Fernsehen. Bei mir haben sie Gelegenheit, haptische und physische Erfahrungen mit allen Tieren des Waldes zu machen.“

Dazu gehören auch Wölfinnen und Wölfe, die Johanna von Harrer als Erzieher angestellt hat.

„Das ist ein historisch bewährtes Konzept. Kinder, die von Wölfen großgezogen wurden, gründen signifikant häufiger Weltreiche, als solche, die bloß Regelschulen besucht haben.“

„Wölfe sind keine pädagogisch geschulten Fachkräfte“, kritisiert dagegen der Pädagoge Hartmut Kappich. „Der beste Wolf des Menschen ist immer noch der Mensch.“

Gleich zwei Wolfsrudel aus den rumänischen Karpaten hat die Harrer in den Revieren um ihren Waldkindergarten ansiedeln lassen. Seither verschwinden auch aus den Dörfern der Umgebung immer wieder Kinder. „Die haben sich aus freien Stücken meinen Kindergartengruppen angeschlossen“, behauptet die Naturpädagogin.

Nun haben sich die Dörfler mit Mistgabeln und Fackeln bewaffnet und eine Petition im Wiesbadener Landtag eingebracht: Die Wölfe der Freifrau sollen abgeschossen werden, bevorzugt mit geweihten Silberkugeln. Nach deutschem Wald- und Wiesenrecht ist das aber nur möglich, wenn ein Wolfsriss von sieben unabhängigen Weidetieren bezeugt wurde. Bisher gab es bloß Indizien. Ein mädchenloser Korb mit Kuchen und Wein wurde neben einem blutroten Käppchen auf einer Lichtung gefunden.

Um die Gemüter zu beruhigen, hat die Latifundienbesitzerin unüberwindliche Wolfszäune um sämtliche menschlichen Ansiedlungen in der Gegend ziehen lassen, so dass der Landkreis nun vollständig von der Außenwelt abgeschnitten ist. Weil die Versorgungslage in den Dörfern zunehmend ausweglos wird, verschwinden nun noch mehr Kinder.

„Wer ist jetzt das Raubtier?“, fragt Johanna von Harrer. „Wir haben alle unsere Rolle im Ökosystem zu erfüllen.“

Für den Umweltbiologen Heinrich Lortzing gehen die Maßnahmen in die falsche Richtung. „Kinder gehören nicht in den Wald! Das sind Leckerbissen für Wölfe, da können Sie ja gleich Würstchen in die Bäume hängen“, fordert er. „Die unkontrollierte Ausbreitung von Waldkindergärten hat die Raubtiere doch erst in unsere Breiten gelockt.“ Statistiken scheinen diesen Zusammenhang zu belegen – forstgestützte Früherziehung und Wolfspopulationen wachsen kongruent.

Dass die wehrhaften Stöpsel der Alpha-Gruppe ihren wölfischen Erziehern zum Opfer fallen, scheint jedoch unwahrscheinlich. Sie haben just das Feuer entdeckt, und neben primitiven Idolen basteln die Kleinen schon eifrig Faustkeile. Fast sind die Höhlenkinder so weit, Speere mit Feuersteinspitzen und Birkenpech herzustellen und auf den Spitzenplatz in der Nahrungskette vorzurücken.

Dreikäsehochgeheul

Auch ihre Jagdmethoden werden raffinierter. Gerade hat das Rudel einen unvorsichtigen Mountainbiker im Gebüsch aufgestöbert. Geschickt kreisen die Dreikäsehochs ihre viel größere und schnellere Beute ein und hetzen sie durchs Unterholz, bis der Erholungssuchende samt Gefährt in eine Schlucht stürzt. Das Triumphgeheul der Kinder geht durch Mark und Bein, als sie den Freizeitsportler „aus der Decke schlagen“, wie es in der Waidsprache extrem beschönigend heißt.

Johanna von Harrer, mit der wir die grausige Szene von einem Hochsitz aus beobachten, ist hochzufrieden. „Klar geht das erst mal barbarisch zu, aber in Kürze werden sie eine Hochkultur mit Pyramiden und allem Pipapo gründen.“

Doch zuvor wird die Alpha-Gruppe noch einige Bewährungsproben zu bestehen haben, denn Johanna von Harrer will nach Wölfen auch Grizzly-Bären im Waldkindergarten ansiedeln. Später sollen Höhlenlöwen und Mammuts folgen, bis die gesamte nachgezüchtete Megafauna des Pleistozäns die Kleinen auf die Gefahren der echten Welt vorbereiten.

„Unsere Kinder sollen gerade in heutigen Zeiten nur die besten Spitzenprädatoren als Evolutionspartner bekommen. Die Kriegstüchtigkeit einer Gesellschaft wächst mit den Angriffen, derer sie sich erwehren muss“, fasst Johanna Freifrau von Harrer ihre Weltsicht zusammen. Das hätte Boris Pistorius als Verteidigungsminister auch nicht schöner sagen können.

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