der unschuldige blick: Feuerkäfer liebt er nicht
An meiner Hand läuft Jannick. Im September wird er vier. Wir erkunden die Straßen in der nicht so noblen Ecke in Friedenau zwischen Rubensstraße und Grazer Damm. Nichts Besonderes gibt es hier: Häuser, Baustellen, parkende Autos, kaum Läden. Sind doch welche da, sind sie verwaist.
Für den Kleinen steckt die Welt trotzdem voller Wunder. Da, eine Schnecke. Sie kriecht zwischen Trottoir und Autoreifen versteckt auf der Straße. Es gilt, sie zu retten. Zuerst wird an ihr Haus geklopft, damit sie sich zurückzieht. Dann wird sie vom Boden aufgehoben und ins Kraut, das um eine Baustelle am Grazer Damm wächst, gesetzt. Während der Kleine das tut, fällt ihm eine Geschichte ein: „Da war einmal ein Schneckenhaus und dann hat Till es kaputtgemacht. Und dann war da noch eine Schnecke drin“, erzählt er. „Dann stirbt die Schnecke also“, sage ich. „Aber er hat nicht gewusst, dass noch eine Schnecke drin ist“, antwortet der Kleine.
Kurz darauf zeigt er mir einen winzigen Marienkäfer an einem Halm am Rande des Bürgersteigs und einen Eisladen, vor dem wir erstarren, bis das Eis in der Hand schmilzt. Wieder aufgetaut, bleibt er vor einem Straßenbrunnen stehen. „Ich will sehen, wie das Wasser kommt“, sagt Jannick. Ich schöpfe. „Gleich läuft es über“, meint er und zeigt auf den Abfluss. „Ich will, dass es überläuft.“ Und als es überläuft, entdeckt er das Schild am Brunnen und fragt, was das für ein Schild sei. „Kein Trinkwasser“ steht drauf.
„Was heißt das?“
„Dass man es nicht trinken soll.“
„Warum soll man es nicht trinken?“
„Wahrscheinlich meinen die, da ist Dreck drin.“
„Ist da Dreck drin?“
„Ich weiß es nicht.“
Der Kleine stellt sich unter den Brunnen, lässt Wasser auf seine Handfläche tropfen, sagt, „guck mal, es ist sauber“, und leckt seine Hand ab. Dann dreht er sich um und entdeckt einen weiteren Zettel. „Was steht da drauf“, möchte er wissen. „Da steht, dass zwei Kindern die Katze ‚Zitrone‘ weggelaufen ist. Jetzt suchen sie sie.“
„Heißt die Katze Zitrone?“
„Ich glaub’ schon.“
„Meine Katze heißt April“, sagt er.
„Du hast doch gar keine Katze.“
„Aber wenn ich eine habe.“
Als nächstes entdeckt Jannick einen Feuerkäfer. Den findet er nicht so gut. „Die darf man aber trotzdem nicht kaputtmachen“, meint er und hüpft weiter bis zum nächsten Zettel, den er an der Stange eines Halteverbotszeichens entdeckt. Ein Aufkleber ist es. Von der NPD. „Was steht da“, fragt er. „Das reiße ich ab. Da steht was Böses“, sage ich. „Was denn“, will er wissen. „Da steht so was, also so was wie: ‚Wenn du nicht so bist, wie ich, dann hau ab‘.“
„Wann bin ich nicht so wie du?“
„Wenn du klein bist und ich groß. Wenn du blonde Haare hast und ich braune. Wenn du so aussiehst wie du und ich so aussehe wie ich. Wenn wir nicht gleich sind.“ Der Kleine denkt nach. Dann schüttelt er den Kopf, meint, „aber wir sind doch gleich“, und läuft weiter.
WALTRAUD SCHWAB
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