Autor über die Welt als Familie: „Alle Menschen haben Eltern“
Der britische Journalist Simon Sebag Montefiore hat eine Weltgeschichte als Familiengeschichte geschrieben. Im Gespräch erzählt er, wie er darauf kam.
taz: Herr Montefiore, Sie sind Bestsellerautor und bekannt für Ihre historischen Bücher zur russischen Geschichte. War Ihre Motivation, jetzt eine Globalgeschichte mit dem Titel „Die Welt“ zu schreiben, die eines staunenden Kindes oder die eines Diktators, der die Welt beherrschen will?
Nette Idee. Aber nichts davon trifft zu. Ich wollte die Geschichte der Welt so erzählen, dass man nichts über sie wissen muss, um sie zu verstehen. Dass man nicht von fremden Namen und entfernten Orten eingeschüchtert ist.
Der Autor:
geb. 1965 in London, studierte Geschichte und arbeitete u. a. als Banker und Kriegsberichterstatter.
Das Buch:
„Die Welt. Eine Familiengeschichte der Menschheit“. Aus dem Engl. von: Andreas Thomsen, Hans-Peter Remmler, Thomas Stauder, Karin Laue, Jens Hagestedt und Maria Zettner. Klett Cotta, 1.536 Seiten, 49 Euro
Ihr Buch hat im Deutschen 1.500 Seiten. Sie sind zuversichtlich, dass sich Leser*innen davon nicht einschüchtern lassen?
Es ist in der Tat ein Türstopper. Aber übertreiben wir es nicht. Mein Buch ist auch nicht dicker als insgesamt zwei Biografien. Noch dazu so geschrieben, dass man versteht, wie all die verschiedenen Orte und Personen auf der Welt zusammengehören. Mit einem Wort: leicht konsumierbar.
Leicht konsumierbar steht in Deutschland immer sofort unter Verdacht. Auch Ihre Biografie „Der junge Stalin“ brachte deutsche Historiker und Kritiker zum Naserümpfen. Statt historischer Analyse würde es menscheln.
Ja, aber dieses Naserümpfen ist keine deutsche Spezifität. Und trotzdem großer Quatsch. Selbstverständlich habe ich den Ehrgeiz, so nah wie möglich an die Wahrheit heranzukommen und das auf Grundlage des neuesten wissenschaftlichen Forschungsstands. Aber genauso ehrgeizig bin ich darin, das Ganze so schön wie ich kann aufzuschreiben.
Sie haben aber auch ganz schön prominente Leser*innen. Wladimir Putin soll von Ihrem 2014 erschienenen Buch über die Zarendynastie „Die Romanows“ geradezu begeistert gewesen sein.
Ja, seine Mitarbeiter erzählten mir, dass er erst über die Lektüre verstanden hätte, auf welche Weise die Romanows die Ukraine und die Krim annektiert hatten. Zum Dank machte er mir das Angebot, in den Stalin-Archiven recherchieren zu können.
Der Schriftsteller Stefan Zweig hat die beste Biografie über Maria Stuart geschrieben. Wie weit weg ist Ihr Sachbuch von einem Roman über die Welt?
Absolut weit weg. Mein Buch ist zwar schön geschrieben, wenn auch vielleicht nicht so schön wie das von Stefan Zweig. aber es gibt hier keine Formulierung von der Sorte: Ihr Herz klopfte, als sie zum Ball ging. Es sei denn, ich habe dafür eine Quelle gefunden, einen Brief, einen Tagebucheintrag, einen Zeugen.
Sie haben nichts erfunden, aber vielleicht was gefunden?
Klar. Aber nicht im archäologischen Sinne. Aber bei einigen Dingen habe ich eine neue Sichtweise, einen neuen Gedanken zu den schon bestehenden hinzugefügt.
Warum haben Sie sich dafür entschieden, eine „Familiengeschichte der Menschheit“ zu schreiben?
Die Idee, die Geschichte der Welt anhand des Meers oder der Seidenstraße zu erzählen, gab es schon. Mein Buch kombiniert die Spanne der Weltgeschichte mit der Intimität der Biografie. Alle Menschen auf allen Kontinenten, in allen Zeiten, aller Herkünfte und aller Religionen haben Eltern. Natürlich ist Familie ein Konstrukt, eine gesellschaftliche Erfindung. Aber ob es nun zwei Väter gibt oder nur einen Samenspender, von zwei Menschen stammt man immer ab. Jeder ist also Teil einer Familie.
Womit Sie nicht nur die Kleinfamilie meinen.
Nein. Familie kann repräsentiert werden durch Clans, Stämme, Staaten, Reiche, Religionen, Ideen und Ideologien. Familien repräsentieren immer das, was gesellschaftlich grade so los ist: Geschlechterverhältnisse, Ökonomie und Arbeit. Sie können auch ein Finanzunternehmen repräsentieren wie in Deutschland die Industriefamilie der Krupps. Bis heute sind viele deutsche Firmen in Familienhänden, was auch eine politische Bedeutung hat. Familie nutze ich als Werkzeug, um die großen Entwicklungen zu erzählen, seien sie technologisch, kulturell, medizinisch oder was Migration betrifft.
Was war die schlimmste Familie, der Sie begegnet sind?
Umso schlimmer sie sind, umso mehr Spaß macht es, über sie zu schreiben: Königsfamilien, die Napoleons, Händler wie die Medici oder moderne Diktatoren, wie die Erbschaftsdiktatur der Assads. Die Kims in Nordkorea aber stechen heraus: Sie besitzen Nuklearwaffen. Keine Familie war je so mächtig.
In welcher Familie würden Sie gern leben wollen?
Am Hofe des Kalifen Harun al Raschid im 9. Jahrhundert in Bagdad.
Warum?
Lesen Sie das Kapitel. Aber seien Sie darauf vorbereitet, schockiert zu werden. Von der kosmopolitischen Kultur, der sexuellen Libertinage, der Literatur, dem enormen Wissen über Kunst, Mathematik, Philosophie, den schönen Tanzmädchen, dem schwulen Sex und vielem mehr, was alles zeigt, warum Bagdad damals das Zentrum der Welt war.
Warum haben Sie mit der sumerischen Prinzessin En-hedu-anna, die im 23. Jahrhundert vor Christus lebte, das Buch begonnen?
Das ist doch offenkundig: Sie war die erste weibliche Dichterin, von der wir wissen, weil sie die erste weibliche Autorin ist, die publiziert wurde. Sie war außerdem die erste Metoo-Aktivistin, da sie beschrieb, wie sie Opfer sexueller Gewalt wurde. Sie war die erste Prinzessin, von der wir überhaupt wissen. Als ich von ihr las, war mir schnell klar, dass in dieser Figur alles zusammenkam, was ich mit diesem Buch vorhatte. Ich wollte globaler, diverser und geschlechtergerechter sein als die Weltgeschichtshistoriker, die wir als Kinder gelesen haben.
Das Problem ist, dass ich nach dem ersten Kapitel über En-hedu-anna gern mehr über sie gelesen hätte statt gleich etwas zur Mutter von Cheops, dem Erbauer des größten Bauwerks aller Zeiten.
Ich auch. Aber alles, was wir über En-hedu-anna wissen, steht in meinem Buch. Für eine eigene Biografie über sie reichen unsere Informationen leider nicht.
In TV-Serien heißt es zu Beginn immer: „Was bisher geschah“. Wäre auch ein guter Titel für Ihr Buch: Dort wird in der Zusammenfassung jeweils erzählt, was wichtig ist für die kommende Episode. Wie haben Sie ausgewählt, was wichtig ist?
Es war ein Drahtseilakt. Und ich bin froh, dass ich so was nie wieder tun muss. Manchmal wachte ich schweißgebadet auf, weil ich im Traum dachte, dass ich vergessen hatte, Jesus zu erwähnen. Natürlich gibt es Dinge und Personen, an denen kommt keine Weltgeschichte vorbei: die Dampfmaschine oder Kleopatra. Europäische Geschichte kann man nicht ohne die Familie der Habsburger schrieben. Da ich Spezialist für russische Geschichte bin, mussten auch die Romanows rein. Aber beispielsweise habe ich Kambodscha als Land ausgewählt, bei dem ich tiefer in die Geschichte eingestiegen bin, weil ich da war und nicht weil Thailand nicht interessanter gewesen wäre. Was Afrika betrifft, musste ich mich für Königreiche entscheiden.
Und was Deutschland betrifft gegen Hitler.
Ganz ohne Bismarck und Hitler geht es nicht. Ich entschied mich aber dafür, die Hindenburg-Familie zentraler zu beleuchten. Paul Ludwig Hans Anton von Beneckendorff und von Hindenburg, Generalfeldmarschall im Ersten Weltkrieg und Reichspräsident bis 1934, war verantwortlich für die Fehler, die zur NS-Diktatur führten. Er hat Hitler als Reichskanzler eingesetzt, ist aber in der Geschichtsschreibung eine vergleichsweise vernachlässigte Figur.
Aber ein Familienmensch?
Ja, ein typisch deutscher Junker, dessen Sohn, als er selbst alt wurde, für ihn die Verhandlungen führte und die Geschäfte leitete.
Ist Geschichtsschreiber ein desillusionierender Job, weil alles schon da war und nichts besser wird?
Nein. Menschliche Geschichte verläuft nicht linear. Jede Ära nimmt Dinge der Vergangenheit auf, verarbeitet sie und fügt neue hinzu. Der Fortschritt der Geschichte ist also nicht zwingend ein Fortschritt für die Menschheit.
Die Sklaverei abzuschaffen war sicher ein Fortschritt. Sie nennen die Sklaven in Ihrem Buch eine Anti-Familien-Institution. Warum?
Sklave sein heißt ja von seiner Familie entfernt zu werden. Die Familien der Sklaven wurden entzweit, ihre Namen geändert, ihre Religion, sie wurden in andere Länder verschleppt. Man gab ihnen ein komplett neues Leben, sie wurden Teil einer neuen Familie und gründeten neue Familien mit Leuten aus allen möglichen Ländern Afrikas. Auch die Geschichte der Sklaven zeigt das ganze Drama des menschlichen Lebens.
Wie in einem Drama haben Sie Ihr Buch nicht in Kapitel, sondern in „Akte“ unterteilt. Blöderweise hat aber jedes Drama auch ein Ende.
Die Welt wird eines Tages an ihr Ende kommen – so viel ist klar. Wir können nur hoffen, dass noch viele Akte auf uns warten.
Ihr Buch ist also unvollendet?
Sicher. Ich wollte keinesfalls Gefahr laufen, ins Journalistische abzudriften. Journalismus muss ja immer urteilen und diese Urteile stellen sich oft genug als komplett falsch heraus. Deswegen hab ich das Buch auch beendet mit dem Tag, an dem der Ukrainekrieg begann.
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