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: „Die Mission hat den Kolonialismus begleitet“

Die Nordkirche beschäftigt sich auf einer Tagung mit ihrer kolonialen Vergangenheit

Interview Robert Matthies

taz: Herr Linck, die Nordkirche wirft einen dekolonialen Blick auf ihre Geschichte. Worum geht es da – um Missionsgeschichte?

Stephan Linck: Wir haben eine Geschichte, an der wir tragen, und wir müssen uns mit dieser Geschichte beschäftigen. Es ist die Geschichte eines Gefälles: Es sind von der Kirche in Deutschland, in Mitteleuropa, in unserem Fall konkret von der Breklumer Mission aus Leute ausgezogen, um das Evangelium zu predigen. Das ist eine sehr schwierige, belastete Geschichte, mit der wir uns beschäftigen müssen. Deshalb haben wir parallel den Prozess der interkulturellen Öffnung begonnen: Wie kann man Kirche so aufstellen, dass sie tatsächlich offen zum Beispiel für Migranten ist. Wir sind eine sehr weiße Kirche.

Wann hat diese Aufarbeitung begonnen?

Foto: privat

Kodjo Valentin Glaeser

freier Journalist, Moderator und Schwarzer Aktivist. Begleitet und unterstützt Initiativen, die sich etwa mit Racial Profiling und strukturellem Rassismus auseinandersetzen.

Linck: Diese Fragen tauchen in unterschiedlicher Heftigkeit seit Jahrzehnten auf. Aktuell gibt es einen Konsens, dass gesagt wird: Es ist Zeit. Ich bin in der Nordkirche für Erinnerungskultur und Geschichtspolitik zuständig und versuche, ein Bewusstsein zum Beispiel darüber zu schaffen, was es bedeutet, wenn in Kirchen Tafeln hängen für Angehörige der „Schutztruppen“, die in den Kolonialkriegen ums Leben kamen. Das können wir so nicht stehen lassen. Aber es ist ein langwieriger Prozess, mit Kirchengemeinden oder dem Denkmalamt über Veränderungsprozesse zu diskutieren.

Dieser Prozess steht noch am Beginn?

Linck: Die Tagung am Wochenende ist die zweite. Wir wollen zuhören, wir wollen die Perspektive der – in Anführungszeichen! – „Kolonisierten“ hören. Wir haben Referierende aus Afrika und Asien eingeladen, uns ihren Blick auf uns zu erzählen. Wir brauchen die Perspektive der anderen, wir brauchen diesen Blickwechsel, um uns hier ranzutasten. Wir sind diejenigen, die die vergangenen Jahrhunderte auf der oberen Seite eines Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisses gestanden haben. Der Kolonialismus ist davon ein zentraler Bestandteil gewesen. Die Mission hat den Kolonialismus begleitet. Die Perspektive der Betroffenen dieses Prozesses muss aufgenommen werden.

Herr Glaeser, Sie tragen dazu eine Perspektive von außen bei?

Foto: Nordkirche

Stephan Linck

Historiker und Archivar, bei der Evangelischen Akademie der Nordkirche zuständig für Gedenkstättenarbeit und Erinnerungs­kultur.

Kodjo Valentin Glaeser: Ich bin gemeinsam mit anderen Kol­le­g:in­nen aus der Schwarzen Community seit vergangenem Frühjahr involviert. Die Nordkirche hat noch einen sehr langen Weg vor sich. Meiner Wahrnehmung nach ringt sie jedoch ernsthaft mit sich und versucht Perspektiven einzubinden, die vom Kolonialismus betroffen sind, was alles andere als selbstverständlich ist; das jedenfalls kann ich bei den Ak­teu­r:in­nen beobachten, mit denen ich zusammenarbeite. Dekolonisierung ist ein komplexer Prozess, der sich auf verschiedenen Ebenen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten abspielt, mehr oder weniger auch parallel. Die Herausforderung liegt darin, all diese Bälle gleichzeitig in der Luft zu behalten, um den Prozess als Ganzes kontinuierlich voranzubringen.

Was muss die Kirche nun tun?

Tagung „Nordkirche Dekolonial“: heute und Sa, 18. 11., 14 Uhr, Christian-Jensen-Kolleg, Breklum; für Menschen unter 30 Jahren ist die Teilnahme kostenlos; Anmeldung unter info@christian­jensenkolleg.de; Infos: www.akademie-nordkirche.de/veranstaltungen/aktuelles/1240

Glaeser:Sie muss zuhören, ernst nehmen, nachdenken und Konsequenzen ziehen. Der Prozess des Zuhörens ist dabei schon sehr komplex: Wir sprechen über eine Epoche, die bereits mehr als ein halbes Jahrtausend andauert und dementsprechend Zeit hatte, sich im Denken zu etablieren, etwa in Gestalt von rassistischen Stereotypen, die als Rechtfertigungsgrundlage für die Kolonialisierungbestrebungen und das damit verbundene millionenfache Unrecht, Schmerz und Leid dienten. Wir müssen uns also viel Zeit nehmen, um Perspektiven zuzuhören, die in den Geschichtsbüchern ausgeblendet sind. Koloniale Kontinuitäten sind nicht nur ein Schlagwort, sie sind Realität! Aber es geht nicht nur um Ausgleich und Gerechtigkeit.

Worum noch?

Glaeser: Es ist auch eine Einladung an die weiße Mehrheitsgesellschaft, da es in dieser riesengroßen Leerstelle auch viel zu entdecken gibt: etwa den enormen Reichtum, die Vielfalt und Tiefgründigkeit, den etwa die Hochkulturen auf dem afrikanischen Kontinent, aber auch in anderen kolonisierten Gebieten der Welt in sich bergen. Es ist also eine Einladung an die weiße Community: Ihr habt eine Menge aufzuarbeiten, aber es gibt dabei auch jede Menge zugewinnen!