berliner szenen
: Vertauschte Rollen in der S-Bahn

Die S75 ist durch einen Polizeieinsatz verspätet. Als sie schließlich eintrifft, sind fast alle Plätze besetzt. Ich finde noch einen freien Sitz in einem Vierer. Neben mir sitzt ein etwa siebenjähriger Junge in Fußballtrikot, ihm gegenüber sein Vater. Dass es sich bei dem Mann um den Vater handelt, lässt sich nur an dem: „Nein danke, Papa“ des Jungen erkennen. Der Vater trägt Jeans und T-Shirt, trinkt Bier aus der Dose, hört über drahtlose Kopfhörer Musik, grölt einzelne Zeilen Deutschrock mit und fragt immer wieder: „Willste nicht doch mithören? Die Mucke ist so geil!“

Der Junge meidet jeglichen Blickkontakt und blickt betont aus dem Fenster. Als dem Vater ein Kopfhörer aus dem Ohr fällt, bückt er sich, um ihn aufzuheben, und sieht danach verunsichert zu mir. Ich tu so, als hätte ich nichts mitbekommen, und gucke schnell in eine andere Richtung, um den Jungen nicht zu brüskieren. Er ist bereits in dem Alter, in dem er erkennt, dass das Verhalten seines Vaters von der Norm abweicht, und sich sichtlich für dessen offensichtliche Trunkenheit schämt.

Nach ein paar Stationen fragt der Junge: „Wo müssen wir umsteigen?“ Der Vater nuschelt etwas für mich Unverständliches. Der Junge nickt. Am S-Bahnhof Westkreuz ruft der Junge panisch: „Wir müssen jetzt raus!“ Der Vater ist gerade ganz in einem Lied drin und winkt ab: „Stress doch nicht!“ Der Junge zieht ihn hoch, steckt den erneut fallenden Earpod des Vaters in seine Hosentasche und schleift ihn hinter sich her aus der Bahn.

Als die S-Bahn anfährt, sehe ich, wie der Junge den Vater zum richtigen Umsteigegleis führt, und hoffe, dass der von mir beobachtete Rollentausch eine Ausnahme war und der Vater sonst seine Rolle wahrnimmt. Mein Gefühl aber sagt mir, dass der Junge dann kaum so souverän agiert hätte.

Eva-Lena Lörzer