berliner szenen: Wer mit wem im Grab liegt
Ich komme zu spät zur Beerdigung. U. reicht mir die Hand und führt mich zum Grab, auf dem weiße Rosen liegen. Im oberen Teil ist ein Loch im Boden. Kannst noch Erde draufschmeißen, sagt sie. Weil keine Schippe da ist, nehme ich die Hand. Die Erde fühlt sich weich und feucht an. Es gibt ein dumpfes Geräusch, als die Erde auf die Urne plumpst. Über dem Loch ist ein Foto des Verstorbenen angebracht, eher ein Schnappschuss. Das Foto ist 20 Jahre alt, erklärt U.
Bevor sich alle im Friedhofscafé versammeln, mache ich einen Abstecher zum Grab einer Bekannten. Bei Brecht und Weigel stehen einige Friedhofstouristen. Ein Herr mit niederländischem Akzent erklärt, wieso die Weigel links und Brecht rechts liegt. Heteronormative Bestattungskultur oder so. Auf M.s Beerdigung vor zehn Jahren war ich überrascht. Ihre Urne wurde im Grab eines bekannten Medientheoretikers beigesetzt. Von einer Verbindung der beiden im Leben wusste ich nichts. Auf dem Weg zum Café, wo der Verstorbene in den Anekdoten der Trauergäste noch einmal lebendig wird, komme ich bei Heiner Müller vorbei. Anstelle der Zigarre, die manchmal in einer kleinen Schale lag, kriecht eine braune Nacktschnecke über die Grabeinfassung.
Bei Kaffee und Käsekuchen erzählt V., wie er als Theaterassistent manchmal spät nachts zum Whiskykaufen zur Tanke geschickt wurde. Die Arbeit mit den Herren Regisseuren und Bühnenbildnern habe sich früher viel weniger zielgerichtet gestaltet als heute, sagt er. Wochenlang erarbeitete aufwendige Entwürfe wie ein riesiger Stalinkopf aus Eis, der während der Vorstellung langsam dahinschmelzen sollte, wurden mit einem Handstreich vom Tisch gewischt, Verträge bei einer Flasche Johnnie Walker im Morgengrauen besiegelt. Gern und oft wurde die Theaterkantine frequentiert und übers Leben philosophiert. Sascha Josuweit
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen