100 Jahre Gründung der Türkei: Der alte Geist, er lebt noch

1923 gründeten Atatürk und seine Getreuen eine laizistische Republik. Selbst Erdoğan, der ein islamisches Reich will, kann dieses Erbe nicht begraben.

Zwei Männer in schwarz-weiß

Die Porträts Atatürks und İnönüs wachen über die noch junge Republik: Amtsstube in Antalya, 1939 Foto: Bernd Lohse/ullstein bild

HEYBELIADA/ISTANBUL taz | Das Haus ist stattlich, fällt aber in der Reihe mit den Nachbarhäusern nicht weiter auf. Eine Villa neben vielen anderen eben. Und doch ist das Haus auf der Prinzeninsel Heybeliada vor Istanbul etwas ganz Besonderes. Hier haben İsmet İnönü und seine Familie nach der Gründung der Türkischen Republik ihre Sommer verbracht, İnönü soll sehr gerne hier gelebt haben.

Das Haus ist heute ein Museum und gibt einen guten Eindruck davon, wie die İnönüs, nach der Familie Atatürks immerhin die zweitbedeutendste der Republik, sich ein gutes Leben vorstellten. Der prägende Eindruck ist: ziemlich schlicht. Die İnönü-Villa strahlt das Ambiente einer gutbürgerlichen Familie aus, die mit ihren vier Kindern hier einigermaßen Platz fand. Nichts Extravagantes, keinen Luxus, das Haus eines republikanischen Bürgers.

İsmet İnönü war im Osmanischen Reich ein revolutionärer General, der sich nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg zunächst gegen den Sultan stellte, um dann wenig später mit dem anderen, weit berühmteren General Kemal Atatürk – die Namen Atatürk und İnönü trugen die beiden dabei erst ab 1934 – den Kampf gegen die Besatzungsmächte Großbritannien, Frankreich und Italien aufzunehmen.

Ähnlich wie kurz zuvor in Versailles mit Deutschland hatten die Siegermächte 1920 auch mit dem Osmanischen Reich einen Diktatfrieden geschlossen. Dadurch sollte das ehemalige Großreich vollständig zerschlagen werden, für die zukünftige Türkei wäre nur noch ein Rumpfstaat in Zentralanatolien übriggeblieben. Die Briten sicherten sich neben Istanbul vor allem Mesopotamien, Ägypten und Palästina, die Franzosen den Libanon und Großsyrien, die Italiener die türkische Mittelmeerküste.

Gründungsmythos „Befreiungskrieg“

Griechenland, das erst kurz vor Toresschluss der alliierten Kriegskoalition beitrat, sollte einen Teil der Ägäisküste rund um das heutige Izmir bekommen. Stattdessen starteten die Griechen eine Invasion in Westanatolien, weil ihre Politiker glaubten, die Niederlage des Osmanischen Reiches für ihren Traum von Großgriechenland ausnutzen zu können.

Der erfolgreiche Kampf gegen die Besatzungsmächte, vor allem gegen die griechischen Invasoren, ist der Gründungsmythos der türkischen Republik. Zahllose Gedenktage, die an entscheidende Wendepunkte im „Befreiungskrieg“ erinnern, ziehen sich durch den türkischen Kalender. In diesem Krieg wurde İsmet İnönü neben Kemal Atatürk zum entscheidenden Akteur. Seine Siege im Januar und März 1921 bei der Stadt İnönü – daher sein Name – schufen die Grundlage für die erfolgreiche Rückeroberung der von den Griechen besetzten Gebiete.

Doch İnönü war nicht nur Militärmann. Eine Ausstellung in Istanbul zeigt ihn derzeit als Diplomaten bei den erneuten Friedensverhandlungen in Lausanne, die nach der griechischen Niederlage im Herbst 1922 begannen und am 9. Juli 1923 mit einem Friedensvertrag zwischen der Türkei, Großbritannien, Frankreich, Italien und Griechenland endeten.

Die damals festgelegten Grenzen sind bis heute die Staatsgrenzen der Türkei. Der im Friedensvertrag von 1920 vorgesehene Staat Armenien und die autonome Region Kurdistan verschwanden ersatzlos in der Versenkung. Mit seinem Verhandlungserfolg schuf İsmet İnönü die Voraussetzungen für die türkische Staatsgründung am 29. Oktober 1923.

Frankreich als großes Vorbild

Viele der Gründer der neuen Republik, allen voran Mustafa Kemal Atatürk, waren beseelt von der Vorstellung, ihr Land solle zu den modernen Großmächten Europas aufschließen. Vor allem das zentralistisch regierte Frankreich wurde zum großen Vorbild. Da passte es, dass Frankreich einen radikalen Schnitt zum Katholizismus vollzogen und den Laizismus zur Staatsräson erklärt hatte.

Genauso sollte in der Türkei das reaktionäre islamische Regime abgeschüttelt werden, genauso sollte in der zukünftigen Republik der Laizismus zur Grundlage des Staates werden. Und so wie es in Frankreich politisch und sprachlich nur Franzosen und keine Korsen, Bretonen oder Basken geben sollte, sollte es in der neuen Republik keine Kurden, Lasen oder die aus dem Balkan vertriebenen Bosniaken geben. Jeder sollte stolz von sich sagen können: Ich bin Türke!, im Sinne von „Bürger der Republik Türkei“.

Folglich wurde in den ersten Jahren der Republik zunächst der Sultan verjagt, dann das Kalifat abgeschafft, die religiösen Orden verboten und die Moscheen unter Staatsaufsicht gestellt. Mit der Einführung des lateinischen Alphabets wurde das Türkische nicht nur von den Einflüssen der arabischen und persischen Sprache bereinigt, es fand insgesamt ein radikaler Schnitt gegenüber der eigenen, orientalischen Vergangenheit statt.

Dieses absolut avantgardistische Programm traf auf eine durch die vorangegangenen Kriege völlig verarmte, stark dezimierte Bevölkerung, die aus mehr als 80 Prozent Analphabeten bestand. Menschen, die sich überwiegend an ihrer Religion und im Falle der Kurden an ihren Clanstrukturen orientierten.

Der Völkermord an den Armeniern wurde verdrängt

Da war es nicht verwunderlich, dass es als Erstes im Osten, in den kurdischen Regionen, zu einem zunächst religiös motivierten Aufstand kam, der von den Führern der Republik brutal niedergeschlagen wurde. Militärischer Leiter der Operation war İsmet İnönü. Als Ministerpräsident führte er aus, was der Visionär und neu gewählte Präsident Atatürk vorgab. Der Kampf gegen den „reaktionären Islam“, und gegen die separatistischen Bestrebungen vor allem der Kurden, wurden zur Grundkonstante der Republik. Der Völkermord an den Armeniern wurde verdrängt, der armenische Besitz war längst verteilt.

Um die Bevölkerung für sich zu gewinnen, startete die Republik eine große Bildungsoffensive und eine Bodenreform, die die Bauern aus den Klauen der Großgrundbesitzer befreien sollte. Der Aufbau einer eigenen Industrie wurde von Staats wegen betrieben und nicht nur Privatinitiativen überlassen. Neben diesen positiven Anreizen stand weiterhin die Repression. Kritik wurde kaum geduldet, größere Erhebungen militärisch niedergeschlagen. Doch trotz der großen Widerstände und der widrigen Voraussetzungen, unter denen die Republik gestartet war, wurde bis 1938, als Atatürk starb, eine stabile Grundlage für den neuen Staat geschaffen.

Nach dem Tod des Gründervaters erfand seine Republikanische Volkspartei, die CHP, den Kemalismus als Politik in der Nachfolge Atatürks. İsmet İnönü, sein treuester Gefolgsmann, wurde neuer Parteichef und neuer Staatspräsident. İnönü war auch derjenige, der Ende der 1940er-Jahre den Einparteienstaat beendete und die Türkei in eine Demokratie führte. Er musste schließlich auch akzeptieren, dass seine CHP die ersten freien Wahlen 1950 verlor und zur Opposition wurde.

Neuer Regierungschef wurde Adnan Menderes von der Demokratischen Partei. Mit Menderes kam erstmals seit der Staatsgründung eine konservative, religiöse und wirtschaftlich rechtsgerichtete Regierung an die Macht. Das brachte den bis dahin unterdrückten Konflikt zwischen laizistischer Republik und konservativem Islam wieder an die Oberfläche – er bestimmt bis heute die politische Auseinandersetzung im Land.

Der Kemalismus schwächelt

In den folgenden 50 Jahren putschte das Militär dreimal, 1960, 1971 und 1980. Zunächst gegen konservativ-islamische Regierungen, 1980 vor allem gegen eine starke Linke. Weil das Militär damals, auch unter dem Einfluss der USA, den Kommunismus als die größte Bedrohung empfand, öffnete man dem Islam wieder die Tore. Die Jugend sollte lieber in die Moschee gehen, als sich in einer sozialistischen Bewegung zu engagieren. Die Folge davon war, dass die islamische Wohlfahrtspartei bis Mitte der Neunzigerjahre soweit erstarkte, dass mit Necmettin Erbakan erstmals ein bekennender Islamist 1996 eine Regierung bilden konnte.

Zum letzten Mal rafften sich die Militärs damals auf, um die Islamisten noch einmal von der Macht zu verdrängen, wenn auch ohne einen direkten Putsch. Doch die Folgeregierung, die letzte von der CHP angeführte Koalition, war extrem schwach und führte das Land in eine schwere Wirtschaftskrise. Bei den nächsten Wahlen im Jahr 2002 errang eine neue Partei, eine Abspaltung von Erbakans Wohlfahrtspartei, einen Erdrutschsieg: die AKP. Ihr Vorsitzender war und ist der frühere Istanbuler Oberbürgermeister Recep Tayyip Erdoğan.

Dessen ideologisches Programm ist es, an die vermeintlich glorreichen Zeiten des Osmanischen Reiches anzuknüpfen. Er sieht sich als Gegenentwurf zu Atatürk und will aus der laizistischen Republik wieder ein islamisches Reich machen. Doch auch nach 20 Jahren an der Macht ist er mit einem hartnäckigen Widerstand konfrontiert von Menschen, die sich ihren Lebensstil nicht von den Mullahs diktieren lassen wollen.

Vor allem in den Städten hat sich dank der Republik ein mündiges Bürgertum entwickelt, das sich dem Staat Erdoğans hartnäckig widersetzt. Selbst nach dem letzten „Wahlsieg“ Erdoğans im Mai ist dieser Widerstandsgeist lebendig. Und so ist auch der Besucherandrang im Ferienhaus von İsmet İnönü im 100. Jahr der Republik enorm.

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