: Schmuck mit Schlafwagenfederung
Francesca Cartier Brickell hat mit „Die Cartiers. Eine Familie und ihr Imperium“ eine Geschichte von vier Generationen geschrieben
Von Brigitte Werneburg
Cartier. Kennt nicht jeder diesen mit Luxusschmuck, Uhren, Perlen und Diamanten verbundenen Namen? Doch wie kam es eigentlich dazu, dass der Name solch internationale Strahlkraft erlangte? Selbst Francesca Cartier Brickell wusste nur wenig darüber, bis sie am 90. Geburtstag ihres Großvaters in dessen Weinkeller statt der gesuchten Champagnerflasche einen lange verschollenen Koffer mit Hunderten von Briefen fand. Vier Generationen ihrer Familie hatten sie ausgetauscht. Der Fund regte sie an, der Geschichte nachzugehen.
Dass Brickell in Oxford und an der Sorbonne Literatur studiert und später als Fondsmanagerin gearbeitet hat, erweist sich als Glücksfall für ihr Vorhaben. Denn sie getraut sich, die Unternehmensgeschichte einer der großen stilprägenden Marken des 20. Jahrhunderts als Familiengeschichte à la Buddenbrooks auf entsprechend 720 Seiten lebendig werden zu lassen. „Die Cartiers. Eine Familie und ihr Imperium“, das natürlich ein verlorenes ist, verbindet erzählerisches Talent bei der Darstellung der handelnden Personen und ihrer unternehmerischen Entscheidungen mit akribischer Recherche. Das wird auch in den Ausführungen zur Cartiers Innovativen in der Schmuckgestaltung deutlich.
Louis Cartier (1875–1942) etwa, der Enkel von Louis-François Cartier, mit dem die Geschichte beginnt, als er 1847 dank glücklicher Fügung das Juweliergeschäft seines Chefs übernehmen konnte, entdeckt seinen besten Gestalter, als er in den Straßen von Paris einen frisch montierten Balkon bewundert. Sofort macht er dessen Schöpfer ausfindig und erklärte ihm, dass er ihn als Schmuckdesigner brauche. Louis ist es auch, der Platin in der Schmuckherstellung durchsetzt. Er erkennt, dass sich das bis dahin nur in der Industrie verwendete Metall so dünn verarbeiten lässt, dass es als Fassung für Diamantschmuck fast unsichtbar wird. Die Lösung für die schwierige Behandlung von Platin in Schmuckstücken findet er an einem völlig unwahrscheinlichen Ort: „Erst als wir die Mechanik der Träger und der Federung am Schlafwagen untersuchten, wurde uns klar, wie wir das Metall für unsere Zwecke anpassen konnten“, zitiert ihn seine Urenkelin.
Louis ist der älteste der drei Söhne von Alfred Cartier (1841–1925), die das bescheidene Juweliergeschäft ihres Großvaters Louis François in eine Ikone des internationalen Luxuskonsums verwandeln. Die Ursprünge des Unternehmens waren bescheiden, der Gründer ist ein Arbeitersohn, der sich durch Fleiß, Scharfsinn und durch schieres Glück vom überarbeiteten, schlecht bezahlten Handwerker zum Händler entwickelt, der eine Fürstin zu seinen Kunden zählte. Als sein Sohn Alfred in den 1860er Jahren das Geschäft einsteigt, hat es schon eine Revolution, eine Wirtschaftskrise, einen Staatsstreich und einen Brand überlebt. Den Deutsch-Französischen Krieg von 1870 übersteht das Haus dank der Provision, die die Juwelen aus dem Nachlass der berühmten Kurtisane Giulia Barucci einbringen, die Alfred in London verkauft.
Eine arrangierte Heirat mit einer vermögenden Metallhändlertocher bringt neues Kapital ins Haus und neues Leben. Die drei Söhne, Louis, Pierre und Jacques, expandieren mit dem Unternehmen nach London und New York, während in der Urlaubssaison Boutiquen in Cannes, Monaco, St. Moritz und Palm Beach öffnen. Cartier beliefert inzwischen die internationale High Society. War zunächst der Adel Stammkunde, insbesondere die Romanows, kamen nach dem Ersten Weltkrieg die amerikanischen Selfmademen und ihre Erbinnen hinzu. Auch Hollywood-Stars wie Marlene Dietrich kaufen regelmäßig bei Cartier. Nach dem Zweiten Weltkrieg sorgen Elizabeth Taylor und Richard Burton mit ihren exorbitanten Schmuckkäufen für Schlagzeilen. Die gesellschaftlichen Umwälzungen der sechziger Jahre zu bewältigen, ist das Haus, dessen Kunden noch kurz zuvor bereit waren, für ein Schmuckstück über 1 Million Dollar zu zahlen, in der vierten Generation nicht mehr in der Lage. 1974 wird Cartier an ein Syndikat verkauft.
Wie Brickell feststellt, ermöglichten der enge familiäre Zusammenhalt der drei Brüder und ihre sich ergänzenden Fähigkeiten den Aufstieg des Unternehmens. Cartier steht für wagemutiges Design in handwerklicher Perfektion, unübertroffenes Wissen um den Wert von Edelsteinen, gepaart mit einem frühen Gespür für die Macht der Öffentlichkeitsarbeit und im Ruf eines ehrlichen, zuverlässigen und diskreten Händlers. Viele der in den Ateliers gefertigten Stücke erlangen den Status von Ikonen wie die Panther-Brosche von Wallis Simpson oder das Tutti-Frutti-Collier von Daisy Fellowes. Dies gilt auch für die Uhren, die im Mittelpunkt der Markengeschichte stehen und das Ergebnis der Zusammenarbeit von Louis Cartier mit Edmond Jaeger sind, der berühmt für seine extra flachen Uhrgehäuse ist, deren Werke er von LeCoultre, einem Schweizer Hersteller herausragender Uhrwerke, bezieht.
Den Entwurf einer am Arm befestigten Uhr, mit der es Louis Cartier seinem Freund, dem Flieger Alberto Santos-Dumont ermöglicht, im Cockpit immer die Zeit im Blick zu haben, würde man heute als disruptiv charakterisieren. Cartier macht die Armbanduhr, die bis dahin ein Schmuckstück für Frauen war, auch für Männer tragbar und beendet mit der 1911 auf den Markt gebrachten Santos die Ära der Taschenuhr. 1917 entwirft er die Tank-Armbanduhr, die angeblich auf die Kriegsmaschinen des Ersten Weltkriegs referiert. Sie wird zur Uhr von Filmstars und Präsidenten: JFK nennt sie „Frankreichs größtes Geschenk an Amerika seit der Freiheitsstatue“, entsprechend empört zeigt sich Andy Warhol auf die Frage, warum er seine Tank nicht aufziehe: „Ich trage doch keine Tank, damit sie mir die Zeit anzeigt. Ich trage eine Tank, weil man sie tragen muss!“
„Die Cartiers“ sind kein Muss, aber eine Empfehlung. Neben der Schlüsselrolle, die Cartier in der Geschichte der dekorativen Künste und der Entwicklung des modernen Stils spielt, reizt eine kleine Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, wie sie sich in der Entwicklung von Cartier gerade in Zeiten großer Umbrüche wie Generationswechseln, geografischer Expansion, Krieg, Rezession und Depression darstellt. Vor diesem Hintergrund entfalten sich die Dramen, Romanzen, Triumphe und Intrigen des Familienromans naturgemäß aufs Schönste.
Francesca Cartier Brickell: „Die Cartiers. Eine Familie und ihr Imperium“. Aus dem Englischen von Frank Sievers. Insel Verlag 2023, 720 Seiten, 34 Euro
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