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Schwerbehinderte ukrainische GeflüchteteRegeln blockieren Wohnprojekt

Eine Wohnheim mit ukrainischen Flüchtlingen soll geschlossen werden, weil es den Standards nicht entspricht. Viele der Bewohner würden gerne bleiben.

Wollen nicht weg: Bewohner des Wohnheims sonnen sich Foto: Miguel Ferraz

Hamburg taz | Yurii fährt los, vom Bürgersteig mitten auf die Straße. Seinen Rollstuhl steuert er über einen Hebel, den er mit dem Kopf bewegt. Er wird schneller. Als ein Auto kommt, macht ihm das keine Angst, er fährt einfach an den Rand auf den Parkstreifen. Auf seinem Rollstuhl prangt ein großer Sticker: Ein Herz in den Farben der ukrainischen Nationalfahne. Zum Spaß fährt er ein bisschen die Straße hinunter, dann kehrt er um.

Sein Zuhause ist ein weißer Neubau im Hamburger Stadtteil Wandsbek: drei Stockwerke, ruhige 30er-Zone. Im Garten sitzen Männer in Rollstühlen, die gemeinsam rauchen. Die Stimmung ist entspannt. Vor dem Haus stehen zwei Pflegerinnen. Alle sprechen sie auf Russisch miteinander.

Ein schwarzes Auto fährt vor, es steigen zwei junge Männer aus. Auch sie begrüßen alle auf russisch, schütteln Hände. Einer der beiden ist Daniel Kalinowski. Mit gerade einmal 20 Jahren ist er Geschäftsführer der Pflegefirma Alster Care, die die 30 Ukrai­ne­r*in­nen mit schwerer körperlicher Behinderung betreut, die hier in der Dernauer Straße leben.

Es gibt noch zwei weitere Standorte in Hamburg, an denen Alster Care ukrainische Schwerbehinderte betreut. Außerdem betreiben Kalinowksi und seine Familie mehrere Einrichtungen mit demselben Konzept in Hannover. Die Familie hat dafür neben Alster Care mehrere weitere Pflegefirmen. Insgesamt sind es ungefähr 200 ukrainische Schwerbehinderte, die in den Einrichtungen leben.

Platz gemacht für Soldaten

Kalinowskis ganze Familie ist schon seit Generationen in der Pflege tätig. Sie haben an vielen Orten gelebt: Polen, Kasachstan, jetzt Deutschland. Der Krieg hat Kalinowski erschüttert, denn ein Teil seiner Familie kommt aus der Ukraine. Er wollte helfen. So kam ihm die Idee, Pflegeeinrichtungen für ukrainische Schwerbehinderte in Hannover und Hamburg zu eröffnen.

„Mit Ausbruch des Krieges verschlechterte sich die Versorgungslage für Menschen mit körperlichen Einschränkungen“, erzählt er. „Teilweise wurden sie sogar aus Krankenhäusern entlassen, weil ihre Plätze für Soldaten gebraucht wurden.“ Die Nachfrage sei sehr groß gewesen, nicht allen konnten sie einen Platz anbieten. Im April bezog die erste Gruppe an Schwerbehinderten die Einrichtung in Hamburg, im Juli kamen weitere nach.

Das ist seine Version der Geschichte. Ganna Preine-Kosach, Co-Vorsitzende des Vereins Ukrainian Future, hat eine andere: Ihrer Meinung nach wollen sich Alster Care und die Kalinowskis nur an dem Leid ukrainischer Schwerbehinderter bereichern, die sie mit falschen Versprechungen nach Deutschland lockten. Ihr Verein wurde schon im Mai von einer ehemaligen Bewohnerin der Einrichtung kontaktiert, die sich über die Unterbringung beschwerte.

Preine-Kosach machte sich selbst ein Bild und fuhr dafür mehrere Male in die Einrichtung. Sie ist davon überzeugt, dass die aktuelle Wohnsituation unwürdig und gefährlich für die Be­woh­ne­r*in­nen sei. Sie arbeitet nun mit der Stadt zusammen, um eine alternative Unterbringung zu organisieren.

Dass das Haus in der Dernauer Straße, welches als gewöhnliches Wohnhaus mit einzelnen Wohnungen gebaut wurde, nicht für Behinderte geeignet sei, ist auch die Ansicht der Sozialbehörde und des Bezirksamts Wandsbek. In einer gemeinsamen Stellungnahme erklären sie, dass „die Vorgaben zur Barrierefreiheit sowie zu Art und Größe der Räume in keiner Weise erfüllt“ würden.

Die Einrichtung sei „um mindestens das Doppelte“ überbelegt, eine ausreichende Pflege der überwiegend sehr schwer Pflegebedürftigen sei bereits baulich nicht zu gewährleisten. Dazu kämen „schwere Pflegemängel des ambulanten Pflegedienstes, so dass diesem die Tätigkeit untersagt werden musste“.

Kritik wegen angeblicher Pflegemängel

Die schweren Pflegemängel betont auch Ganna Preine-Kosach: Sie erzählt, dass die Bewohne­r*in­nen seit ihrer Ankunft im April kaum ärztliche Betreuung erhalten hätten und viele an Liegewunden litten, die kaum behandelt würden. Ein Bewohner mit Darmproblemen sei unterernährt gewesen, weil ihm normales Essen gegeben worden sei, welches er nicht verdauen konnte. Zudem habe es sogar einen Todesfall gegeben, für den die Verantwortung bis heute ungeklärt ist.

Die Wohngemeinschaft in Wandsbek soll aus diesen Gründen geschlossen und die Bewohne­r*in­nen sollen umgesiedelt werden. Nach einem Rechtsstreit mit den Behörden hat sich Alster Care dazu verpflichtet, das Haus bis zum 31. Oktober zu räumen. Wohin es für die Be­woh­ne­r*in­nen gehen soll, ist unklar. Einige sind bereits freiwillig in eine andere von der Stadt Hamburg organisierte Unterbringung gezogen. Von den ursprünglich 45 Bewoh­ne­r*in­nen sind noch etwa 30 übrig.

In den vergangenen Monaten haben diverse Akteure das Haus besucht: Bezirksamt, Sozialbehörde, Pflegeaufsicht, das Ukrainische Generalkonsulat, ein unabhängiger Pflegedienst, und der Verein Ukrainian Future. Sie haben mit den Be­woh­ne­r*in­nen gesprochen, das Haus inspiziert, sich alles ganz genau angeschaut. Dabei scheint es kein geregeltes Verfahren oder ein Orientierungsmodell gegeben zu haben. Vergleichbare Wohneinrichtungen für ukrainische Schwerbehinderte gibt es in Hamburg nicht.

Das Ukrainische Generalkonsulat konnte zwar bestätigen, dass weitere Geflüchtete mit schwerer Behinderung in Norddeutschland leben. Für diese gebe es jedoch keine speziellen Gemeinschaftseinrichtungen, wie die Kalinowskis sie betreiben.

Das Ergebnis der Inspektionen war: So, wie ihr hier lebt, geht es nicht weiter. Die Be­woh­ne­r*in­nen hätten Grund misstrauisch zu sein, wenn Fremde in ihr Haus kommen. Trotzdem sind sie offen und gesprächsbereit.

Ostrovskiy ist es wichtig zu betonen, dass er sich von den Behörden nicht gehört fühlt

Anton Yaroshenko ist einer von ihnen. Der 38-Jährige lebt seit April in der Dernauer Straße. Ursprünglich kommt er aus der ukrainischen Stadt Dnipro. 15 Jahre lang arbeitete er in einem Logistikbetrieb. Dann kam der Unfall: Beim Tauchen erlitt Yaroshenko so schwere Verletzungen, dass er seitdem nicht mehr laufen kann. Dennoch besteht für ihn die Chance auf Heilung. In der Ukraine hat er dafür eine Reha gemacht. Als der Krieg ausbrach, musste die Klinik jedoch schließen und er wurde entlassen.

Während er erzählt, schaut Yaroshenko aus seinem medizinischen Pflegebett auf einen großen Fernsehbildschirm. Es sieht nach einem Musical aus, für das Gespräch hat er den Ton aber ausgeschaltet. Das Bett neben ihm ist bereits leer, sein Mitbewohner ist ausgezogen.

Fast alle Zimmer im Haus werden von mehreren Personen geteilt, was die Be­woh­ne­r*in­nen jedoch nicht zu stören scheint. Über Yaroshenkos Bett hängen kleine blau-gelbe Babysocken. Es sind die ersten Socken seiner Tochter. Inzwischen ist sie ein Teenager. Seit dem Krieg lebt sie in Polen.

Die Flucht sei anstrengend gewesen, erzählt Yaroshenko, aber sie habe sich gelohnt. Hier könne er seine Heilung endlich fortsetzen und habe dabei schon einige Fortschritte gemacht. Seine Darstellung widerspricht den Vorwürfen der Pflegeaufsicht, die gravierende Pflegemängel in der Einrichtung feststellte.

Auch mental muss Yaroshenko immer noch lernen, mit seinem Unfall umzugehen. „Hier habe ich Freunde gefunden, die schon lange im Rollstuhl leben und mir Ratschläge geben können. Wir haben alle ähnliche Erfahrungen gemacht: Mit unseren körperlichen Behinderungen und mit dem Krieg.“ Die Hausgemeinschaft sei für ihn wie eine Familie. Ob er ein Foto machen wolle? Nein, winkt Yaroshenko ab, lieber nicht.

Angeblich nicht ausreichend: Zimmer mit Pflegebett im Wohnheim Foto: Foto: Miguel Ferraz

In der Einfahrt vor dem Haus steht Anatolii Burian mit seinem Rollstuhl, um ihn herum ein paar weitere Bewohner. „Wir lieben es hier und wollen nicht weg!“, sagt er energisch. Die anderen nicken zustimmend. Der 36-jährige Burian hat bis zum Krieg in Kyiv gelebt. Erst wollte er trotz des Krieges bleiben.

„Aber als Kyiv bombardiert wurde, habe ich verstanden, dass ich wegmuss.“ Zunächst flüchtete er nach Österreich. Dann wurde er über Facebook auf die Einrichtung aufmerksam. Er suchte seine Papiere zusammen und wurde in einem behindertengerechten Bus von Freiwilligen hergebracht.

Ähnlich erging es dem 45-jährigen Yurii Ostrovskiy. Er flüchtete nach Ausbruch des Krieges erst nach Kroatien und lebte dort in einem Altenheim. Das sei schrecklich gewesen. Er habe sich eingesperrt gefühlt und war sehr einsam. Als er das Angebot sah, gemeinsam mit anderen Ukrai­ne­r*in­nen in einer Wohngemeinschaft in Deutschland leben zu können, war er wie besessen von der Idee.

Eigenständig und privat finanziert mietete er sich ein behindertengerechtes Auto und einen Fahrer, um sich selbst von Kroatien nach Deutschland zu transportieren. „Ich habe viel da rein investiert, hier leben zu können, aber es hat sich gelohnt“, sagt er. „Hier fühle ich mich frei. Ich kann spazieren oder einkaufen fahren, wann ich will, und die Menschen hier sind wie meine Familie.“ Auch er möchte die Einrichtung auf keinen Fall verlassen.

„Den Behörden ist bewusst, dass die betroffenen Menschen besonderen Wert auf das gemeinsame Zusammenleben mit ihren Landsleuten aus der Ukraine legen“, sagen Bezirksamt und Sozialbehörde in ihrer Stellungnahme. Deshalb hätten sie das Gespräch mit den Betroffenen, ihren Bevollmächtigten, dem Ukrainischen Generalkonsulat und dem ambulanten Pflegedienst gesucht, um eine Aufnahme als Gruppe in stationärer Pflege zu organisieren.

Wer bezahlt, wer profitiert?

Die Einrichtung in der Dernauer Straße ist eine ambulant organisierte Wohneinrichtung nach dem Hamburgischen Wohn- und Betreuungsqualitätsgesetz. Für die Pflege der Be­woh­ne­r*in­nen bezahlen die Pflegekassen pro Person monatlich einen Betrag, der von dem Pflegegrad der jeweiligen Person abhängt. In der Einrichtung leben überwiegend Menschen mit einen Pflegegrad von 4 oder 5, denen ein monatlicher Betrag von 1693 € oder 2095 € für die Pflege zukommt.

Dazu kommen je nach Bedürftigkeit der Be­woh­ne­r*in­nen Bürgergeld nach dem SGB II für grundsätzlich Erwerbsfähige oder Sozialhilfe nach dem SGB XII für Erwerbsunfähige. Darin enthalten sind Mietkosten für die Unterkunft. Die Kosten für den Betrieb der Einrichtung werden somit staatlich finanziert. Über die genaue Höhe der monatlichen Zuwendungen haben weder die Behörden noch der Betreiber der Einrichtung Angaben gemacht. Das Haus selbst wird kostenlos vom Eigentümer zur Verfügung gestellt, der damit ukrainischen Geflüchteten helfen möchte. Insofern fallen keine Kosten für die Anmietung an.

Es ist unklar, ob AlsterCare durch die unzureichende Unterbringung einen überdurchschnittlichen Profit erwirtschaftet, wie dies etwa die Vermutung von Ganna Preine-Kosach ist. Geschäftsführer Daniel Kalinowski dementiert dies mit den Worten: „AlsterCare macht in diesem Zusammenhang keinen Profit, sondern verzeichnet eher Verluste. Das Unternehmen befindet sich finanziell in einer sehr schlechten Situation“.

Das Ukrainische Generalkonsulat bestätigt auf taz-Nachfrage, dass es eng und konstruktiv mit der Sozialbehörde zusammenarbeite und die Rechte der ukrainischen Staatsbürger*in­nen durch das behördliche Handeln und die Schließung der Einrichtung gewahrt sehe.

So nehmen das aber jedenfalls nicht alle Betroffenen wahr. „Fast jede Woche sind Leute hergekommen und haben uns befragt. Ich habe immer gesagt, dass ich es hier liebe und hier bleiben möchte“, sagt Yurii Ostrovskiy. Während des Gesprächs hat es angefangen zu regnen, deshalb ist der von der Einfahrt zurück in das Haus gefahren und steht jetzt im Flur. Neben ihm geht eine steile Treppe mitten durch das Haus hinab, gegenüber gibt es aber auch einen Fahrstuhl, den die Be­woh­ne­r*in­nen mit ihren Rollstühlen nutzen können.

Ostrovskiy ist es wichtig zu sagen, dass er sich von den Behörden nicht gehört fühlt. Weitere Be­woh­ne­r*in­nen bestätigen seine Ansicht. Ihre Version der Geschichte steht jener der Behörden und des Vereins Ukrai­nian Future entgegen. Möglicherweise wollen nur diejenigen Personen mit Journalis­t*in­nen sprechen, die zufrieden sind.

Eine anonyme Quelle gibt an, dass es auch unzufriedene Bewoh­ne­r*in­nen gebe, die Angst hätten, offen über ihre Situation zu sprechen. Der taz liegt ein Screenshot von einem Chatverlauf eines Bewohners vor, in dem dieser schreibt, dass er gerne anderswohin ziehen würde und das Pflegepersonal in der Einrichtung sich übergriffig verhalte.

Nicht schwarz-weiß

Um die Lage zu beruhigen, ist in den letzten Wochen auch ein zweiter, unabhängiger Pflegedienst in die Dernauer Straße gekommen. „Das Konzept der Einrichtung hier ist in Hamburg so nicht vorgesehen“, sagt dessen Leiterin beim Rundgang durch das Haus. Die Beziehung zwischen Be­woh­ne­r*in­nen und Pflegenden sei sehr eng und mute schon fast wie eine private Pflege durch Angehörige an – dabei handele es sich um einen professionellen Pflegedienst.“

Die Situation sei schwierig und nicht schwarz-weiß. „Objektiv muss man sagen, dass hier die gesetzlichen Standards einfach nicht erfüllt werden“, sagt die Pflegedienstleiterin. „Wir sehen an einigen Punkten auch keine Möglichkeit, wie diese Einrichtung mit dem Gesetz vereinbar gemacht werden kann.“ Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass die Idee der Einrichtung schlecht sei.

Kalinowksi setzt sich dafür ein, dass die Menschen aus den Hamburger Standorten nicht nur in von der Stadt angebotene Einrichtungen, sondern auch in Alster-Care-Häuser in Hannover ziehen können. Mit diesen gebe keine Probleme. Eine entsprechende taz-Anfrage beim Landesamt für Soziales in Niedersachsen blieb unbeantwortet. Formal ist ein solcher Transfer wegen der Wohnsitzauflage für Geflüchtete nicht möglich. Diese könnte jedoch theoretisch aufgehoben werden.

Die Behörde sagt dazu nur: „Dem Bezirksamt ist der Wunsch einer größeren Gruppe der Schutzsuchenden bekannt, nach dem 31.10.2023 in eine vergleichbare Wohneinrichtung nach Hannover umzuziehen.“ Unklar bleibt, wie sie sich zu diesem Wunsch verhält.

Die Leiterin des externen Pflegedienstes muss jetzt schnell wieder los. Die Männer vor dem Haus verabschieden sie freundlich und reden gleich weiter davon, dass sie auf keinen Fall ausziehen wollen. Auch Anton Yaroshenko kommt jetzt raus. Er möchte doch noch gerne fotografiert werden. Vielleicht wird er das Bild seiner Tochter schicken.

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