Was heißt mütterlich?

Helgard Haug von Rimini Protokoll hat mit dem Theater Hora aus Zürich den „Kaukasischen Kreidekreis“ bearbeitet. Das Gastspiel lief im Hebbel am Ufer

Das Kind (Robin Gilly) zwischen den Müttern, der Magd Grusche (Simone Gisler) und der Fürstin (Tiziana Pagliaro) Foto: Monika Rittershaus

Von Katrin Bettina Müller

Brecht hat das sicher nicht geahnt. Dass die Magd Grusche, die sich in seinem Stück „Der Kaukasische Kreidekreis“ eines von der Fürstin auf der Flucht vergessenen Kindes annimmt und tapfer für sein Überleben kämpft, auch erotische Fantasien hat. Simone Gisler aus dem Züricher Ensemble Theater Hora aber gibt ihrer Grusche einen übersprudelnden Moment, in dem sie von ihrer Heirat mit Simon träumt, von einer Hochzeitsreise in die Karibik und wildem Sex in der Hochzeitsnacht.

Ihre Begeisterung und ihre Freude am Ausmalen dieser Fantasie erfreut wiederum das Publikum. Damit hat Simone Gisler, eine Schauspielerin mit Down-Syndrom, nicht nur die Figur der Grusche um eine zusätzliche Farbe bereichert, sondern nebenbei auch den Diskurs um die Sexualität von Menschen mit Behinderung berührt. Und um ihre Rechte: auf Lust, auf Familiengründung, auf eigene Kinder.

Das alles kommt in der Inszenierung, die Helgard Haug vom Regie-Kollektiv Rimini Protokoll mit dem Ensemble des Theaters Hora, in dem viele Profis mit kognitiven Beeinträchtigungen arbeiten, entwickelt hat, spielerisch und wie nebenbei daher. Hättest du gerne ein Kind? Mit dem Nachdenken über diese Frage, die jeder und jedem auf der Bühne gestellt wird, wird ein weiterer Kontext von Fragen gestreift. Wie viel Selbstständigkeit und Verantwortung traut man Menschen mit einer Behinderung zu? Was gesteht man ihnen zu? Wieso ist das nicht ihre Privatsache? Was ist privat? Wie schützt man das? Was an der eigenen Geschichte fließt in meine Rolle? Auch mit diesen Fragen geht die Inszenierung ungewöhnlich um. Das Ensemble verteilt Bücher im Publikum, mit privaten Fotografien aus Familienalben, mit Kinderfotos von ihnen und kurzen biografischen Skizzen, die schmerzhafte Momente in der Familiengeschichte berühren. Man ahnt, was ihre Persönlichkeiten im Alltag zu verarbeiten haben. Versteht auch, dass sie nicht alles auf der Bühne preisgeben wollen. Die Bücher müssen die Zuschauer nach der kurzen Lektüre wieder abgeben.

Das Regiekollektiv Rimini Protokoll ist dafür bekannt, mit Laien und deren Wissen über Spezialgebiete des Alltags zu arbeiten. In „Chinchilla Arschloch, waswas“ arbeitete Helgard Haug mit Christian Hempel zusammen, der mit einem Tourette-Syndrom lebt und schon da musste sie lernen, sich auf einen anderen Rhythmus einzulassen. Rimini Protokoll ist gut darin, einen schützenden Rahmen für seine Protagonisten auf der Bühne zu bauen.

Das hat sicher die Schauspielchefin der Salzburger Festspiele, Bettina Hering, dazu veranlasst, Helgard Haug zu beauftragen, mit dem Theater Hora eine Inszenierung zu machen, möglichst zu einem Stoff aus dem Theaterkanon. Bei den Salzburger Festspielen war „Der Kaukasische Kreidekreis“ eine Sensation, das erste inklusive Stück.

Gut, dass Berlin nicht Salzburg ist, und die Inszenierung, die im Hebbel Theater zu sehen war, nicht als Sensation gelten muss. Schließlich hat die Stadt zwei Ensembles für Schau­spie­le­r:in­nen mit Behinderungen, Thikwa und Ramba Zamba, die auch mit anderen Theatern der Stadt zusammenarbeiten. Und Hora war schon oft zu Gast in der Stadt, nicht zuletzt beim Theatertreffen.

Die Inszenierung vom Kreidekreis kreist um eine Szene aus Brechts Drama, die wiederholt und immer wieder anders gelesen wird: Es geht um die „Probe“, die der Richter Azdak der Fürstin, der leiblichen Mutter des Kindes, und der Magd, die das Kind gerettet und großgezogen hat, aufgibt. Beide streiten darum, wem das Kind „gehört“. Das Kind steht im Kreidekreis, sie ziehen an seinen Armen. Grusche lässt ihn los, damit es das Kind nicht zerreißt. Damit bekommt sie bei Brecht das Kind zugesprochen, weil sie die größere Mütterlichkeit bewiesen hat.

Dieser moralische Kompass bekommt bei Hora aber alternative Narrative an die Seite gestellt. Könnte nicht das Kind entscheiden? Wo sind seine Zukunftsaussichten besser? Haben nicht vielleicht auch andere Mitspielende, wie die Musikerin und der Soldat, mütterliche Qualitäten? Und was überhaupt heißt mütterlich?

Auf der einen Seite, denkt man beim Zuschauen, ja, ja, interessante Fragen, aber doch immer nur angerissen. Merkt aber dann, beim nachspüren, nachdenken am nächsten Tag, dass sich doch überall Perspektivverschiebungen eingeschlichen haben, dass Fragen und Antworten sich, bezogen auf den Kontext des Zusammenlebens von Menschen mit und ohne Behinderung, verändern.

Der Abend hat seine Längen, er erzählt verlangsamt und etwas löchrig. Doch derweil kann man der Schlagzeugerin Minhye Ko zuhören, die Musik stammt von Barbara Morgenstern. Ko drückt sich lieber mit dem Schlagzeug aus als zu sprechen, hat man aus dem Buch erfahren. Ob man das als Einschränkung sieht? Noch so eine offene Frage.