Wim Wenders porträtiert Anselm Kiefer: Der Romantiker in der Fabrikhalle
In seinem Film „Anselm“ porträtiert Wim Wenders den Maler und Bildhauer Anselm Kiefer als Universalkünstler in 3-D – ohne kritische Distanz.
Der große hagere Mann schlurft allein durch sein Atelier. Er pfeift eine zufriedene Melodie, bleibt begutachtend vor einer Leinwand stehen. Sie ist nicht ganz so groß, wie es bei den Gemälden dieses Künstlers üblich ist, keine sechs mal fünf Meter voll dunkler, scheinbar zerfallener Schichten aus abgebranntem Stroh, übergossenem Blei oder dicker Acrylfarbe. Vielleicht sind es diesmal nur zwei mal ein Meter, die da im Halbdunkel auf einem Rollgestell vor ihm stehen.
Er hebt etwas auf der Leinwand an, womöglich ein galvanisiertes Stück Blech. Sein Pfeifen deutet an: Er ist zufrieden mit seinem Werk. Und routiniert, wie es Anselm Kiefer wohl schon seit fünfzig Jahren macht, versetzt der Künstler dem Rollwagen dann einen kräftigen Ruck, um ihn laut ratternd und zielgenau vor eine ganze Riege solcher Leinwände zu manövrieren, die womöglich alle auf eine ähnliche Inspektion des Meisters warten.
Lange hallt das Rattern der Rollen auf dem Atelierboden nach. Derweil gleitet die Kamera viele Meter in die Höhe und erst dann merkt man in einer frühen Szene von Wim Wenders’ Künstlerdokumentation „Anselm – Das Rauschen der Zeit“, was das eigentlich für eine unglaubliche Kulisse ist.
Im dämmernden Abendlicht zeichnet sich das Innere einer riesigen Lagerhalle ab, eines regelrechten Logistikzentrums der Kunst. Nein, noch mehr: Auf meterhohen Regalen, zwischen Gabelstaplern, Asphaltkocher und Brennofen hat Anselm Kiefer sich hier, in dem einstigen Lagerhaus der französischen Kaufhauskette La Samaritaine bei Paris, eine monumentale Stätte der Dinge und Symbole angelegt, mit Bettgestellen wie aus frühen Heilanstalten und zu ruinösen Türmen gestapelten Betonquadern.
„Anselm – Das Rauschen der Zeit“. Regie: Wim Wenders. Deutschland/Frankreich/Italien 2023, 93 Min.
Die Kamera steht nun oben, über der menschenleeren Metropole seines Schaffens. Noch immer pfeift der mittlerweile 78-jährige Anselm Kiefer sein Liedchen, schwingt sich auf ein Hollandrad und verschwindet in den dunklen Straßen seines Ateliers.
Große Räume verwandelt
Es sind atemberaubende Szenen, die der Künstler Anselm Kiefer seinem langjährigen Freund, dem Filmregisseur Wim Wenders hier liefert. Und sie werden im Laufe des Dokumentarfilms immer beeindruckender – in 3-D. Die losen Kapitel von „Anselm“, mit denen sich Wenders an den Künstler und seine Kunst herantastet, widmet der Regisseur den bildgewaltigen Kiefer’schen Arbeitsstätten: Der Dachboden einer Schule in Hornbach, die Ziegelfabrik im Odenwald, dann das Anwesen La Ribaute in Südfrankreich nahe Avignon: ein für immer unvollendeter, zig Hektar großer Themenpark aus rostenden Wellblechhallen und einem staubigen Amphitheater, aus insgesamt 40 Räumen mit unterirdischen Gängen und Krypten.
Hier kreist die Kamera um Kiefers mythische „Frauen der Antike“, diese kopflosen weiblichen Figuren in verwitterten Brautkleidern, um einen Flugzeugträger aus Blei oder um die wie ausgebrannt wirkenden Quadertürme. Das kriegszerstörte Deutschland seiner Kindheit – Kiefer wurde 1945, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, in einem Luftschutzbunker in Donaueschingen geboren – lässt der Künstler in seinen Ateliers immer wieder geisterhaft auferstehen.
La Ribaute hat Kiefer 2020 der Stiftung Eschaton vermacht, die Anlage ist öffentlich zu besichtigen. Wim Wenders kam 2019 zum ersten Mal dorthin. „Da war ich doch recht von den Socken und ich habe gesagt, ‚now or never‘“, erzählt der Regisseur in einem Interview für den NDR in diesem Sommer, nachdem er „Anselm“ bei den Filmfestspielen in Cannes vorgestellt hatte.
Der letzte Anstoß für das schon lange zwischen den zwei Freunden angebahnte Filmprojekt war schließlich seine atemberaubende Kulisse. Und Wim Wenders holt die Kiefer’schen Ruinen nun auf die Leinwand, macht sie mit seinen schwebenden Kameras, der Plastizität des Dreidimensionalen noch ästhetischer, noch erhabener.
Während der in Düsseldorf geborene Wim Wenders, auch Jahrgang 1945, in die Welt ausbrach, mit seinen mittlerweile über 60 Filmen die texanischen Weiten, die Mode in Japan, eine skurrile Community in einem New Yorker Hotel fiktiv oder dokumentarisch verarbeitet, grub Anselm Kiefer immer tiefer in der deutschen Geschichte. Er arbeitete mit seiner Kunst gegen ein Beschweigen des Nationalsozialismus in der deutschen Nachkriegsgesellschaft an. Und er scheute sich nicht vor Monumentalität. Das brachte ihm in Deutschland viel Kritik ein. Das Ausland aber, allen voran die USA und Frankreich, feierte ihn. Auch heute gilt der französische Präsident Emanuel Macron als ein Bewunderer Kiefers, beauftragte ihn 2020 für das Pariser Panthéon.
Der Mythos als offene Baustelle
Kiefers düstere, großformatige Dachbodenbilder aus den 1970er Jahren etwa sollten berühmt werden. Mehrfach malte er diesen perspektivischen Raum von dunkler Suggestivkraft, den damalige Kritiker mal als Walhalla in Regensburg, mal als Nazi-Festsaal deuteten. Einmal legte er eine leere Wiege darein. Sie sollte einen Ort für den jungen Parsifal symbolisieren, wo das mittelalterliche Heldenepos seine Anfänge nimmt – und auch das Epos des angehenden Künstlers Anselm Kiefer. War das nicht größenwahnsinnig, sich mit diesem braun belasteten Mythos zu identifizieren?
Ob er ein Neofaschist sei, lautet die Frage eines Journalisten in einer der historischen Fernsehaufnahmen, die Wim Wenders immer wieder in seinen Film einfädelt. Woraufhin Kiefer recht trocken erwidert, dass diese Frage eine Beleidigung für ihn sei, er sich aber im Gegenzug nie als Antifaschist bezeichnen möge, denn damit würde er die von den Nazis bis zum Tode verfolgten Antifaschisten noch viel mehr beleidigen.
Dies ist die klarste politische Aussage von Anselm Kiefer, die der Film im Verlauf seiner 93 Minuten liefert. Und sie zeigt, dass der Künstler offenbar mehr Distanz zu sich selbst hat, als Wim Wenders mit seinem Porträt ansonsten suggeriert. Der inszeniert ihn lieber als den großen Universalkünstler in seinem Kosmos, lässt Kiefers vom Rauchen tief gesunkene Stimme mit Sätzen aus dem Off kommen wie „Der größte Mythos ist der Mensch selbst“.
Solch pathetische Formeln werden dann abgelöst von den sinfonischen Klängen des Filmkomponisten Leonard Küßner, gehen auf in der überwältigenden Ästhetik des Films. Immer wieder allerdings bricht Wim Wenders mit der eigenen Monumentalität. Er zeigt den Künstler heute bei seiner Arbeit im Atelier, wo dann auch mal der Pinsel mit einem dicken Platsch in den Farbtopf fällt oder das automatische Podest über Minuten auf die richtige Meterhöhe vor der Leinwand justiert wird.
Kindheit als Spielszene
Und er blendet spielfilmartige Rückblicke ein. Kiefer als Kind zeichnend in den Feldern seiner baden-württembergischen Heimat, gespielt von Wenders’ Großneffen Anton Wenders. Kiefer als Student im Atelier, wie sein Blick ebenjene Holzbalken des Dachbodens entlangfährt, die bald darauf auf seinen Gemälden wieder auftauchen sollten, gespielt von Sohn Daniel Kiefer. Diese Sequenzen, sie porträtieren den Künstler auf einem – wie beschreibt man das? – einsamen Weg der Erkenntnis und der ästhetischen Reife. Und damit bedient Wenders ein sehr romantisches Klischee.
Das Formelhafte bringt Wim Wenders hier gerne auf die Leinwand. Auch bei den „Frauen der Antike“, Kiefers weibliche Figuren ohne Kopf, Symbole für die vergessenen Frauen der Kulturgeschichte. Wenn Wenders die Kamera auf dem Anwesen von La Ribaute um ihre verwitterten Brautkleider drehen lässt, dann haucht dazu eine junge, weibliche Stimme in den Film. Geisterhaft, auch erotisch, flüstert sie etwas kaum Verständliches.
Das ist auf diese Wenders’sche Art bezaubernd. Und es ist gleichzeitig so schablonenhaft vom Regisseur, die Frau im Film als solch schattenhafte, jugendliche Muse auftreten zu lassen.
Dabei ist Anselm Kiefers künstlerischer Blick auf die Frau etwas facettenreicher, als es diese Filmbilder vermitteln. Wenig bekannt sind seine erotischen Aquarelle, auf denen er sich selbst als männlicher Künstler befragt, wenn er die für ihn typischen Symbole, Türme etwa, phallusartig am weiblichen Körper hervorsprießen lässt. Doch für solch einen selbstironischen Kiefer ist kein Platz in „Anselm“, trotz 93 Minuten, trotz 3-D. Wim Wenders hat mit diesem Film ein Monument für Anselm Kiefer gedreht, so pathetisch und einseitig ein Monument eben ist. Ein recht verstaubtes Monument übrigens.
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