berliner szenen: Noch nicht alles verloren
Als ich die U-Bahn-Station am Hermannplatz verließ, fand dort gerade eine Demonstration statt – aus Solidarität mit Armenien nach dem Angriff Aserbaidschans auf Bergkarabach hatten sich dort Menschen mit Plakaten und Megafonen versammelt. Ich blieb kurz stehen, betrachtete die Demonstrierenden und dachte: In welcher beschissenen Welt leben wir eigentlich? Überall schreit es nach Krieg, nach Macht und nach Ungerechtigkeit. In einer friedlichen und gerechten Welt würden diese Leute jetzt irgendwo entspannt ein Bier trinken oder so.
Ich lief weiter, den Kottbusser Damm entlang und in einen Drogeriemarkt rein, um mir ein alkoholfreies Getränk zu kaufen, bevor ich mich gleich mit zwei Freunden in eine alkoholgetränkte Nacht stürzen würde. In einer Seitenstraße trank ich das Getränk und dann fiel mir auf, dass ich meine Ohrringe ja noch anziehen wollte, die ich nur schnell in meine Tasche gesteckt hatte, bevor ich die Wohnung verließ. Ich war also gerade dabei, die Ohrringe anzuziehen, als die Demo meine Höhe erreichte. Irgendwie war ich davon ablenkt, jedenfalls fiel ein Teil des Ohrrings herunter. Ich kniete mich hin und klapperte mit meinen Augen den Asphaltboden ab, als mich plötzlich eine Frau mit einem etwa vierjährigen Kind, das neben ihr auf einem kleinen Fahrrad fuhr, ansprach. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie mich. Ich winkte freundlich ab und erklärte ihr, dass ich nur einen Teil von meinem Ohrring suchen würde, der mir gerade heruntergefallen war. Die Frau meinte zum Kind: „Du hast doch noch so gute Augen, also steige doch bitte mal von deinem Rad ab und helfe mit suchen.“ Das Kind stieg ab und wir suchten zu dritt nach dem Ohrringteil. Auch wenn die Suche erfolglos blieb, war ich froh, dass die Menschheit doch noch nicht ganz verloren ist.
Eva Müller-Foell
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