Des Mörders Freunde und Helfer

Beim Filmfest Hamburg setzt „Die Unsichtbaren“ Kommissarin Marianne Atzeroth-Freier ein Denkmal: Gegen den Widerstand ihrer Chefs überführte sie den „Säurefassmörder“

Die unerschütterliche Kommissarin im Gehäus Foto: Matthias Freier/ Filmfest HH

Von Wilfried Hippen

Marianne Atzeroth-Freier war in den 1990er-Jahren eine der ersten Ermittlerinnen in der Hamburger Mordkommission. Sie überführte den „Säurefassmörder“ in einem der spektakulärsten deutschen Kriminalfälle jener Zeit. Doch diese Geschichte von einer hartnäckigen Polizistin, die auf höchstem kriminalistischen Niveau ermittelte, ist bis heute nie filmisch erzählt worden. Nur weil Marianne Atzeroth-Freier die Stiefmutter des Filmemachers Matthias Freier war, und er so unmittelbar miterlebte, wie schäbig sie von ihren Vorgesetzten und dem Führungsstab behandelt wurde, kommt jetzt bei der Premiere beim Filmfest Hamburg „die Wahrheit über diesen Fall aus Licht“.

Ja, mit Sätzen wie diesem werden die in TV und Internet beliebten True Crime Stories beworben. Auf einer Ebene folgt Matthias Freier in seinem Film auch den Konventionen dieses Genres, um sie dann aber raffiniert zu dekonstruieren. Denn er erzählt zwar die Geschichte vom Frauenmörder Lutz Reinstorm, der in einem Kellerverlies Frauen gefangen hielt, sie quälte, mindestens zwei von ihnen tötete und ihre Leichen in Fässern voller Salzsäure vergrub. Aber er erzählt sie eben aus der Perspektive der Kriminalkommissarin Marianne Atzeroth-Freier. Diese jagte den Mörder nicht mit der Unterstützung, sondern gegen den Widerstand des Hamburger Polizeiapparats. Denn mit den Herren Ermittlern stand der Mörder auf gutem Fuß. Geschichten von verschwundenen Frauen wurden damals bei der Mordkommission nicht ernst genommen.

Im Film erzählt Marianne Atzroth-Freier zu einem großen Teil selbst diese Geschichte – allerdings nur in Ausschnitten aus langen Tonbandgesprächen, denn Matthias Freiers Stiefmutter starb, bevor er sie selbst auch mit einer Kamera befragen konnte. Sie wäre eine Unsichtbare in ihrer eigenen Geschichte geblieben, wenn Freier sie nicht hätte in nachinszenierten Szenen durch die Darstellerin Constanze Andree verkörpern lassen. Dadurch wird der Film zwar zur Doku-Fiktion und die Spielszenen sind sorgfältig und aufwendig mit 17 Dar­stel­le­r*in­nen inszeniert. Aber Freier war so klug, keine spektakulären Situationen nachzubauen, sondern eher alltägliche Vorkommnisse zu zeigen, in denen die Protagonistin etwa bei Büroarbeiten oder Gesprächen mit Kollegen gezeigt wird. In diesen Stimmungsbildern wird deutlich, wie isoliert diese Frau unter ihren chauvinistischen Kollegen gewesen sein muss. „Die Unsichtbaren“ ist ein spannender, inhaltlich und stilistisch komplex erzählter Film, durch den eindrucksvoll deutlich gemacht wird, wie sexistisch die Zustände in der Hamburger Mordkommission noch in den 1990ern waren.

Eva Simon hatte dagegen ein ruhiges Leben. Über 60 Jahre lang lebte sie mit Dieter Simon zusammen: „Für immer“, wie der Titel der Langzeitdokumentation über das Paar von Pia Lenz verspricht. Eva Simon war Schriftstellerin. Darauf wird zwar in dem Film kaum eingegangen, aber sie hat die ganze Zeit lang Tagebuch geführt, und so gibt es ein einseitiges, aber sehr wahrhaftiges Zeugnis dieser Ehe. Auszüge daraus liest Nina Hoss.

Fiktionale Stimmungsbilder verdeutlichen, wie isoliert diese Frau unter den chauvinistischen Kollegen gewesen sein muss

Bebildert durch Familienfotos und private Filmaufnahmen wird da in gut formulierten Sätzen von dieser Beziehung erzählt. Von der frischen Liebe im Jahr 1953, von den Kindern und dem tragischen Verlust eines Sohnes, der im Alter von vier Jahren bei einem Autounfall starb, von Seitensprüngen, Eifersucht, Versöhnungen und kleinen Alltäglichkeiten. Kein außergewöhnliches Leben also, aber ein außergewöhnlich geglücktes. Dies wird vor allem durch die oft wortlosen, alltäglichen Szenen deutlich, die Pia Lenz in den letzten Jahren der Ehe filmen konnte.

So gibt es intime Einstellungen, in denen Gesten, Blicke und wie ein Leitmotiv immer wieder die Hände der beiden, die sich berühren, zu sehen sind: In solchen zärtlichen Momenten zeigt sich, wie liebevoll die beiden nach all den Jahren immer noch miteinander umgehen. Und schließlich auch voneinander Abschied nehmen, denn Eva bekommt schließlich auch ihren “egoistischen“ Wunsch erfüllt, vor Dieter sterben zu dürfen. Ohne je voyeuristisch oder sentimental zu sein, erzählt Pia Lenz hier davon, dass die Utopie einer Liebe „für immer“ tatsächlich gelebt werden kann.

Filmfest Hamburg, 28. 9. bis 7. 10. „Die Unsichtbaren“ läuft am 30. 9., 17 Uhr; „Für Immer“ am 1. 10., 12 Uhr. Beide Filme laufen im Metropolis