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Kiel nähert sich im Schneckentempo der NS-Zeit

Das Zentrum zur Geschichte Kiels im 20. Jahrhundert muss erst noch gebaut werden, 40 Jahre nach dem Ratsbeschluss. Geforscht wird aber schon – auch zu den kolonialen Ambitionen des NS-Staats

Von Frank Keil

Es hat lange gedauert. Sozusagen sehr, sehr lange. Bis die Stadt Kiel sich nun umfassend ihrer NS-Geschichte stellt. Ein Rückblick im Schweinsgalopp: 1985 beschließt der Rat der Stadt, ein „Dokumentationszentrum zur Geschichte des Nationalsozialismus“ zu errichten.

Danach passiert von Seiten der Stadt nicht viel – während die örtliche Zivilgesellschaft umso reger ist, etwa der „Arbeitskreis zur Erforschung des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein (AKENS)“ immer wieder nach Kiel blickt und sich so im Kieler Stadtteil Russee der Gedenk- und Lernort „Arbeitserziehungslager Nordmark“ etabliert. 2011 folgt ein nächster Ratsbeschluss, dass man sich nun wirklich der Aufarbeitung der Kieler Geschichte der NS-Zeit widmen will: ein Zentrum soll entstehen.

Vier Jahre später legt der zuständige Kulturausschuss eine erste Konzeption vor. 2017 wird eine Planstelle eingerichtet, die sich um die Umsetzung kümmern soll. Noch mal zwei Jahre später wird ein Organisationskonzept vorgestellt und die Kieler Verwaltung beauftragt, es umzusetzen.

Im Jahr 2020 dann ein dritter Ratsbeschluss, der festlegt, dass die benötigten Gelder für den Um- und Ausbau geeigneter Räume bereitgestellt und die jährlich nötigen Personal- und Sachkosten ab nun Teil des Kieler Haushalts werden (zwischenzeitlich ist man ganz begeistert von der Idee, einen virtuellen Dokumentations- und Forschungsort zu installieren, sozusagen alles ins Internet zu schieben, zum Glück kommt man davon wieder ab).

Und nun ist seit einem Jahr die Historikerin Sabine Moller unterwegs, das „Zentrum zur Geschichte Kiels im 20. Jahrhundert“ auf den Weg zu bringen, das sich von den Räumlichkeiten her noch im Aufbau befindet, aber längst tätig ist; Moller steht seit April dieses Jahres mit Rabea Bahr eine pädagogische Mitarbeiterin zur Seite. „Wichtig ist, dass hier keine fertige Aufarbeitung zum Nationalsozialismus in Kiel präsentiert wird, sondern dass wir zum Mitforschen anregen, dass wir die lokale Geschichte gemeinsam betrachten, Fragen entwickeln, sodass etwas Neues entsteht, das dann hier ausgestellt wird“, sagt Moller. „Wir stellen dazu einzelne Orte aus dem Kieler Stadtraum vor, die wichtig sind – wie etwa das Sophienblatt, wo Kiels letzter Rabbiner Arthur Posner bis zum Juni 1933 wohnte, oder den Wilhelmplatz als Platz der Bücherverbrennung, auch um so die schon bestehenden Erinnerungsorte zu vernetzen.“ Aktuell sind die Kieler BürgerInnen aufgerufen, private Fotos zum Wilhelmplatz einzureichen.

Apropos Orte: „Der Ortsbezug ist der wichtigste Motivator, den wir haben“, sagt Moller. „Wer in den Flandernbunker geht oder den Ort des ehemaligen Lagers Russee besucht – der versteht mehr, weil so deutlich wird, wo etwas gewesen ist.“ Gleichzeitig ist die Geschichtsdidaktikerin froh darüber, dass der Ort des neuen Zentrums in der Hopfenstraße in Bahnhofsnähe kein authentischer Ort ist, sondern ein Bundesbankgebäude aus den 1990er-Jahren. „Mir ist der forschende Zugang wichtig“, sagt sie.

Von daher könne es ein guter Ort werden, wo Informationen recherchiert, Quellen interpretiert und Familien-Alben, die daheim im Schrank lagern, zu geschichtlichen Dokumenten werden. „Wir haben hier eine viel größere Freiheit als in einer Gedenkstätte, die zugleich häufig ein Friedhof ist und damit ein Ort der Andacht, der von Nachfahren besucht wird und an dem Kerzen angezündet werden“, sagt die Historikerin.

Wie der Dreiklang aus Ausstellen – Forschen – Vernetzen funktionieren kann, erprobte Moller im Mai am Beispiel eines Ortes, der auch ein Ausstellungsschauplatz im Zentrum sein wird. Gemeint ist der Wilhelmplatz, auf dem 1933 die Bücherverbrennung in Kiel stattfand: Schülergruppen folgten recherchierend der damaligen Strecke von der Universität bis zum Wilhelmplatz; gingen auch der Frage nach, warum es von der so exakt durchorganisierten Aktion keinerlei Fotos gibt; zudem forschten drei universitäre Projekte zur Bücherverbrennung und sichteten dazu auch Aktenmaterial aus dem Bundesarchiv.

„Die an der Kieler Bücherverbrennung Beteiligten waren später ziemlich hochkarätige Akteure, die im Reichssicherheitshauptamt oder im Auswärtigen Amt Karriere gemacht haben und die auch im folgenden Vernichtungskrieg an zentralen Stellen tätig waren“, beschreibt Moller das Forschungspotential über den Erinnerungs- und Mahnaspekt hinaus.

Das gilt etwa für den Buchhändler Friedrich Knolle, mit dem sich die SchülerInnen beschäftigten. „Er wurde nach der Bücherverbrennung Gaukulturwart, hat im Reichssicherheitshauptamt Karriere gemacht, war in den Niederlanden für die Deportation der dortigen Juden zuständig und wurde zuletzt vom Chef der Sicherheitspolizei Kaltenbrunner zur sogenannten Partisanenbekämpfung nach Serbien abkommandiert“, umreißt Moller dessen Stationen während der NS-Jahre.

Nach dem Krieg taucht er in Bremen unter falschen Namen unter, wird immer wieder angeklagt, aber nie verurteilt: „Er hatte dann in der Privatwirtschaft eine Führungsposition inne, trat in die FDP ein und ist in den 1970er-Jahren verstorben.“ Es lohne sich also, die damaligen Akteure genauer zu betrachten und zu schauen, was aus ihnen geworden sei.

An Darstellungsfläche stehen dem kommenden Zentrum 300 reale Quadratmeter zur Verfügung. Plus Platz für Sonderausstellungen. Ein erstes Projekt dazu bereitet Sabine Moller seit einiger Zeit vor. Und dafür geht es auf die weniger vertraute rechte Förde-Seite, rüber nach Neumühlen-Dietrichsdorf. Hier befand sich Kiels sogenanntes Afrika-Viertel, eine Arbeitersiedlung der Howaldtswerke, die 1938/39 so benannt wurde.

Das Kieler „Afrika-Viertel“ wurde Teil der NS-Kolonial-Propaganda und der Militarisierung

Noch heute findet sich hier die Lüderitzstraße, die Wißmannstraße und die Woermannstraße, wohingegen die nach Paul von Lettow-Vorbeck und Carl Peters benannten Straßen nach 1945 anders hießen. Eine ins Thema führende Besonderheit: Eine Straße hieß nach Franz Ritter von Epp, dem Leiter des damaligen Reichskolonialbundes. „Afrika-Viertel, von denen es im Deutschen Reich bis zu 60 gab, wurden Teil der NS-Kolonialpropaganda und Teil der Militarisierung, so wie auch die Kieler Kriegswerften expandierten“, erzählt Moller.

Später ändert der NS-Staat seine Stoßrichtung: „1943, als der Generalplan Ost fertig ist, löst man den Reichskolonialbund auf, trennt sich vom Kolonialrevisionismus, setzt auf die Kolonisierung des Ostens, und auch einige der Kieler Akteure gehen ins Reichskommissariat Ostland.“ Moller lässt durchblicken, dass die aktuelle, hoch emotionale Debatte um die Verbindungslinien zwischen dem Kolonialismus der Kaiserzeit und dem Nationalsozialismus auch in Kiel ihr Material findet.

Hilfreich für ihre Recherche waren auch Archivalien im Kieler Stadtarchiv, das überhaupt näher rückt: Es wird in der Hopfenstraße auf derselben Etage wie das Zentrum neue Räume beziehen, stellt den BesucherInnen dann auch sein Fotoarchiv zur Verfügung. Der zweite Nachbar: die Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, die nicht nur die Kompetenzen ihrer rund 1.400 Mitglieder einbringen wird, sondern auch ihre gut geführte Bibliothek mitbringt.

Von den Räumen her ist noch alles Baustelle. Kabel hängen von der Decke, Wände für kommende Arbeitsräume, für den Vortragssaal und den Empfangstresen müssen versetzt werden, es fehlt flächendeckend trittdämmender Fußboden. Auch muss man entscheiden, was aus dem schusssicheren Fluchtraum für die einstigen Bankangestellten wird, der nicht mehr heutigen Brandschutzvorschriften entspricht. Es gibt also noch viel zu tun. Offiziell ist die Eröffnung der Räume zwar für Ende 2024 geplant. Vielleicht wird es aber auch erst im Frühjahr 2025 soweit sein. Das wäre dann vierzig Jahre nach dem ersten Beschluss

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Infos: www.kiel.de/geschichtszentrum

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