orte des wissens
: Die Annalen der Minderstadt

Das kleine Bardowick hat eine große Geschichte: Tapfer stellt sich das Archiv der Samtgemeinde der Aufgabe ihrer Erforschung

Geschichte ist mächtig in Bardowick, das schon 972 das Stadtrecht erhielt. Im frühen Mittelalter war der Ort wegen des Salzhandels ein bedeutendes reiches Wirtschaftszentrum – bis es von Lübeck abgelöst wurde. Der Eigensinn der Bardowicker ist legendär. Sie leisteten Widerstand gegen ihren Herrn, den Welfenherzog Heinrich der Löwe. Daraufhin zerstörten die Welfen die Stadt 1189.

„Bardowick ist seit etwa 1400 ein Flecken“, erläutert Ursula Schwanitz-Roth. „Wir sind eine Minderstadt, also weder Stadt noch Dorf.“ Die Kunsthistorikerin und Archäologin kennt wohl jede Episode aus der extrem wechselvollen Geschichte Bardowicks – und so ist sie die ideale Besetzung fürs Samtgemeindearchiv, das seine Arbeit 2005 aufnahm. „In den 1990ern kam die Idee auf, historische Zeugnisse des Ortes zu sichern, eben alles, was sich an Alt-Akten in der Verwaltung, auf Dachböden und in Schränken fand.“ Schwanitz-Roth war zunächst ehrenamtlich fürs Samtgemeindearchiv tätig, im Dachgeschoss des Standesamts, gleich beim imposanten Dom. Inzwischen ist sie angestellt.

Das von ihr angelegte Findbuch verzeichnet als älteste Archivstücke einen Vertrag aus dem Jahr 1538 und das „Rathsbuch“ von 1570. „Die Inventarisierung ist work in progress bei meinen zwei Vormittagen wöchentlicher Arbeitszeit. Bemerkenswert finde ich, dass ein Flecken wie Bardowick überhaupt ein eigenes Archiv hat.“

Im Samtgemeindearchiv Bardowick werden Aufstieg, Blütezeit und Fall der einstigen Stadt nachvollziehbar. Schwanitz-Roth veröffentlicht ihre Rechercheergebnisse seit 2007 regelmäßig im Ortsblatt „Aktuelles aus der Samtgemeinde“. Ihre „Streiflichter der Geschichte“ handeln zum Beispiel vom Privileg des „Zippelhauses“. Denn ab 1445 hatte sich der Flecken auf den Gemüseanbau verlegt und verschiffte die Gartengewächse – „Zippel“ ist ein altes Wort für Zwiebel – über Ilmenau und Elbe nach Hamburg. Dort wurden sie vor dem Rathaus verkauft. Die Stadt förderte das, indem sie den Bardowickerinnen ab 1537 ein Verkaufs-, Lager- und Wohnhaus bei der Katharinenkirche zur Verfügung stellte. Die Verkäuferinnen lebten dort während des Sommers und das Gemüse gelangte auf Kähnen fortwährend frisch in die Stadt.

Geschichten wie diese erarbeitet Schwanitz-Roth aus den Archivalien. So entstand auch die Broschüre „Das Jahr, in dem Bardowick polnisch war“ (2018) über die Nachkriegsmonate bis März 1946: Alle Bardowicker mussten auf Befehl der britischen Besatzungsmacht Haus und Hof verlassen – wohin auch immer. Nach und nach zogen nun Displaced Persons (DPs) ein, meist Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter. „Aus den Akten im Archiv lässt sich schließen, dass hier etwa 5.000 Menschen aus Polen untergebracht waren. Bardowick war dabei kein Durchgangslager, sondern man lebte hier für mehrere Monate. 82 Trauungen hat der Standesbeamte beurkundet.“ Das Samtgemeindearchiv verwahrt zahlreiche Rundschreiben der britischen Militärregierung, belegt aber auch die kulturellen Aktivitäten für die hier lebenden Polen. So trat im August 1945 der Geiger Yehudi Menuhin vor 800 „DPs“ auf, am Klavier begleitet von dem Komponisten Benjamin Britten.

Im August 1945 trat hier der Geiger Yehudi Menuhin auf. Am Klavier Benjamin Britten

Schwanitz-Roth leistet nicht nur die beharrlich-genaue Inventarisierungsarbeit. Sie befragt darüber hinaus Angehörige von alteingesessenen Familien, um deren Erinnerungen festzuhalten. Und wer wendet sich an das Archiv? „Anfragen kommen einerseits aus der Verwaltung, zum Beispiel dem Bauamt. Aber auch Schülergruppen kommen, weil sie etwas über die Geschichte des Ortes erfahren wollen. Oder Menschen möchten ihre Familiengeschichte erforschen.“ So schließt sich der Kreis im noch jungen Samtgemeindearchiv Bardowick, in dem Schwanitz-Roth Schicht für Schicht historisch belangvolles Material digital erfasst und eine vertiefende Vermittlungsarbeit leistet, die lokale Geschichte begreifbar macht. Frauke Hamann