Schweigen ist das bessere Sprechen

Ist Sprache auf immer und ewig die zentrale Technik, Sinn zu übermitteln? Diese Frage zieht sich durch die derzeitige Gruppenausstellung im Kunstverein Braunschweig – ohne eindeutiges Ergebnis

Ohne Worte, aber überraschend gut lesbar: Julia Phillips setzt in ihrer Arbeit „Fingers“ (2014) auf die choreografierte Gelenkigkeit unserer Gliedmaßen Foto: Stefan Stark

Von Bettina Maria Brosowsky

Sieben Künst­le­r:in­nen oder Teams haben dazu beigetragen, aber das Haus wirkt nicht unangenehm voll. Vielleicht, weil das Thema dieser aktuellen Gruppenausstellung in der Villa Salve Hospes des Kunstvereins Braunschweig ohnehin nicht über die geballte optische Präsenz zu packen gewesen wäre? Sondern eher nach ephemeren, flüchtigen Formen verlangt, die auch andere Sinne als das Sehen ansprechen? Denn es geht um die Macht der Sprache – stellvertretend für andere Systeme der Welterklärung und -erfahrung – sowie um deren Beschränkung und zeitliche Vergänglichkeit.

„Words don’t go there“, sinngemäß: „Hierfür gibt es keine Worte“, ist die Schau betitelt, entnommen ist das einem Interview mit dem Schwarzen US-amerikanischen Literaten und Kulturkritiker Fred Moten. Er beklagt unter anderem, dass die Erfahrungen breiter sozialer, vielfach auch ethnischer Gruppen sich nicht in der „herrschenden“ Sprache widerspiegeln. Und das gilt wohl für jeden Sprachraum.

Aktueller als Motens Feststellung von 2004 – und Hinweis auf ganz andere Aspekte sprachlicher Unzulänglichkeit – sind die Gedanken der ukrainischen Schriftstellerin Tanja Maljartschuk, vorgetragen kürzlich in ihrer Eröffnungsrede zum Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt: „Die Sprache, die schönste Gedichte hervorbringt, kann auch dazu dienen, Befehle kundzutun, zum Abschuss von Raketen, die Zivilisten töten, oder zum Vorrücken von Panzern. Die Sprache ist daher nie unschuldig, man muss, wie es ein mir bekannter Schriftstellerkollege aus dem Kongo neulich formulierte, selbst sauber sein, wenn man mit einer schmutzigen Sprache arbeiten möchte.“

Ähnlich hohen ethischen Anspruch reklamieren wohl auch die internationalen künstlerischen Arbeiten, die Kurator Benedikt Johannes Seerieder nun in der Braunschweiger Ausstellung versammelt hat. Das Spektrum reicht von Sound- und Textarbeiten über Videos und Performances, die sich allesamt auch um die architektonische Struktur und Geschichte des Hauses, also ein weiteres implizites Herrschaftssystem, bemühen und dabei Räume über die Geschossgrenzen ungewohnt in Beziehung setzen.

Dass bestimmte Situationen einem Menschen schlicht die Sprache verschlagen können, ist ein gängiger Topos. Aber wenn dies in einer so exponierten Konstellation wie einer Pressekonferenz passiert, darf man vielleicht doch etwas anderes dahinter vermuten. Diesen Moment hat das Künstlerinnen-Duo Pauline Boudry und Renate Lorenz im bereits 2016 produzierten Video „Silent“ inszeniert: Während die glamourös gestylte Protagonistin also vor den Mikrofonen schweigt, erscheint sie wenig später, entspannt auf einer Parkbank sitzend, sehr wohl bereit zum Erzählen. Die Form der Mitteilung ist nun allerdings – der Gesang.

Glaubwürdigkeit und Akzeptanz einer Mitteilung hängen ab von vielen Faktoren

Das vorherige selbstgewählte Verstummen lässt sich, gemäß den Künstlerinnen, auch als eine nonverbale Geste des Widerstands lesen – und die so erzeugte beklemmende Stille wird durch die alltäglichen Hintergrundgeräusche am Berliner Oranienplatz, wo gedreht wurde, umso deutlicher. Mit ihrer Arbeit versperren Boudry und Lorenz den Raumfluss im Erdgeschoss der Braunschweiger Villa, denn sie wird in einem hermetischen White Cube präsentiert. Im letzten Raum des Obergeschosses erwartet die Be­su­che­r:in­nen hingegen ein Arsenal von Mikrofonen. Ob sich dort jemand zum öffentlichen Sprechen herausgefordert fühlt?

Ganz minimalistisch wiederum arbeitet die Schweizerin Nina Emge. Sie funktioniert je einen Raum im Erd- und Obergeschoss in einen Klangkörper um: Unten warten drei zwischen Boden und Decke gespannte Kontrabass-Saiten auf performative Aktivierung, Bögen liegen für ein dreistimmiges Klangwerk bereit. Eine weitere Saite im Raum direkt darüber ist Stellvertreterin für drei Stücke, die befreundete Mu­si­ke­r:in­nen beigesteuert haben. Sie bringen Momente gemeinsamer Trauer zum Ausdruck, in diasporischen und postmigrantischen Musiktraditionen und deren kollektiven Praktiken, die sich nicht in starre Kompositionen und Instrumentationen festschreiben lassen.

Verstummen als Geste des Widerstands: das Video „Silent“ (2016) von Pauline Boudry und Renate Lorenz Foto: Stefan Stark

Auch Mode und Textilien stellen ein Kommunikations- und sogar beinhart sozial-normatives Distinktionssystem dar – daran ist erst mal nichts neu. Der Franzose Ndayé Kouagou hat Abfälle der Pariser Couture in Plexiglaskästen konserviert und mit aufgedruckten Fragen oder kurzen Sätzen versehen. „Sorry für putting you in this situation“ ist zu lesen, oder die Frage, ob man sich in seiner, also Kouagous „Ecke“ wohlfühlt. Die Sentenzen stammen aus einer Videoarbeit, die wiederum im Obergeschoss zu finden ist. Dort irritiert die Stimme, die nicht zur äußeren Erscheinung des Sprechenden zu passen scheint: Glaubwürdigkeit und Akzeptanz einer Mitteilung hängen ab von vielen Faktoren.

So stellt sich die Frage: Ist denn die Sprache auf immer und ewig die zentrale Kulturtechnik der Sinnübermittlung? Im ehemaligen Gästezimmer der Villa, in der Regel einem Gastkommentar zur Ausstellung vorbehalten, lässt Julia Phillips in einer feinen, stummen Videoarbeit die beiden Zeigefinger zweier zusammengefasster Hände eine Choreografie erstaunlicher Gelenkigkeit und Ausdrucksstärke vollführen. Ohne Worte sind die kleinen Szenen zu lesen, harmonischer Gleichklang etwa oder eher kämpferisch ausgetragener Konflikt. Schon der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein sah bekanntlich ja Missverständnisse in der Logik unserer Sprachen. Er empfahl als richtige Methode, um Fragen zu beantworten: im Zweifelsfalle lieber schweigen.

Words don’t go there, bis 1. 10., Kunstverein Braunschweig.

Parallel dazu in der Remise: Daniel Lie und Juliana dos Santos, „Das, was nicht geerbt werden kann“/“Aquilo que não se herda“