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: Horror in Trance

„Medusa“ (Brasilien 2021, Regie: Anita Rocha da Silveira); die DVD ist ab circa18 Euro erhältlich.

Es ist Nacht in einer brasilianischen Stadt. Acht junge Frauen mit weißen Masken schlagen auf offener Straße eine junge Frau ohne Maske zusammen. Zuvor war diese Frau in einem lasziven Tanzvideo zu sehen. Sie soll nun vor der Kamera das Sündige ihres Tuns reuig bekennen. Das sind die ersten Szenen des Films. Die jungen Frauen im Neonlicht der Straßenlaternen verfolgen und prügeln mit bestem Gewissen, ihr Verbündeter nämlich, der, in dessen Auftrag sie unterwegs sind, ist Gott. Sie versammeln sich regelmäßig zur Show, die ein evangelikaler Einpeitscher als Gottesdienst aufführt. Sie singen auf derselben Bühne fromme Lieder mit unschuldigem Augenaufschlag.

Eine von ihnen, Michele (Lara Tremouroux), erklärt als Influencerin, wie man sich als gutes Mädchen und zukünftige brave Gattin schminkt und verhält. Eine andere, Micheles beste Freundin Mariana (Mariana Oliveira), glättet sich stets das von Natur widerspenstig sich lockende Haar. Bei einem weiteren Überfall, diesmal in einem Park, versetzt ihr das Opfer in Notwehr eine klaffende Wunde auf der linken Wange. Sie fühlt sich nun und gilt für die anderen als entstellt: Kein wackerer christlicher Mann schaut sie mehr an. Nicht einmal Micheles Schminktipps helfen noch weiter.

Mit dem Riss im Gesicht gerät Mariana aus der vorgezeichneten Bahn Richtung Familie, Mutterkreuz und so weiter. Sie sucht einen Job und gelangt als Pflegerin in eine riesige Klinik für Komapatienten. Hier liegen atmende und beatmete Menschen wie lebende Leichen. Es flackern, als gingen Geister um, die Neonlichter. Mariana beobachtet die blonde Chefin und einen der Pfleger bei etwas unheimlichen Tänzen. Sie selbst ist auf der Suche nach einer jungen Frau namens Melissa, die sie mit der evangelikalen Frauentruppe einst in Brand gesetzt hat. Sie geht nun um in der Psyche der Mädchen, als Verkörperung ihres dann vielleicht doch nicht nur guten Gewissens.

Anita Rocha da Silveira, zuständig für Drehbuch und Regie, entwirft in ihrem zweiten Spielfilm „Medusa“, der noch zur Regierungszeit von Jair Bolsonaro entstand, eine dystopische, evangelikal-faschistische Welt. Den politischen Gesamtzusammenhang lässt sie bewusst im Vagen, es könnte durchaus eine leicht verfremdete Version der Gegenwart sein, in der sich die Handlung zuträgt. Die gewaltbereite Frömmelei, die Verbindung von Influencer-Welt und evangelikalen Ekstasen sind nur zu real.

Rocha da Silveira entrückt das nur zu Reale aber sehr gezielt in Richtung surrealer Fantasy und atmosphärisch in die Nähe des Horrorfilm-Genres; dazu trägt auch der beunruhigende Score von Bernardo Uzeda bei. Wobei diese Verschiebungen das Gegenteil eines Ausweichens sind. Eher geht es um Atmosphären- und Bildkorrelate für Bewusstseinszustände, um Bilder und Töne für das Eindringen einer nicht kontrollierbaren Macht, des sexuellen Begehrens, in das gewaltsam Säuberliche der fanatisch christlichen Umwelt. Die Masken, die Wunden, die flackernde Komaklinik, die nächtlichen Tänze: Bilder und Szenen eines Kinos der Trance.

Nichts ist trotz gelegentlicher Überspitzungen bloß satirisch, nichts ist allegorisch in dem Sinn, dass es verschlüsselt wäre und eindeutig enträtselt werden könnte. Sehr real ist der Schrecken, umso mehr, als man die entworfene Welt als Ganze weniger rational versteht als atmosphärisch ertastet. Nur konsequent, dass auch das Ende keine konventionelle Auflösung bringt. Stattdessen Dunkelheit und Bewegung und Deformation der Sprache, der Übergang von umrissenem Sinn ins blanke Entsetzen: ein Schreien und Schreien. Ekkehard Knörer