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„4 qm Wahrheit“ an der Weser

Vor über sechs Jahren haben taz-Leser*innen Zehntausende Euro für ein „Arisierungs“-Mahnmal in Bremen gespendet. Nun kann es betrachtet werden, im September wird es offiziell eröffnet

Von Jean-Philipp Baeck

Es war das Ende eines langen Arbeitstages, wie üblich. In der Redaktion entstand eine spontane Idee, von der wir im Winter 2015 nicht geahnt hätten, dass sie wirklich Gestalt annähme. Doch tatsächlich: In Bremen ist ein „Arisierungs“-Mahnmal entstanden. Es ist der Erfolg eines zivilgesellschaftlichen Kraftakts, der sich über Jahre hinzog, den die taz initiiert und den Sie als Le­se­r*in­nen mit Spenden ermöglicht haben.

Erinnern wird das Mahnmal an den Raub jüdischen Eigentums und die Profite in der Zeit des Nationalsozialismus: in der Handelsstadt Bremen als einem wichtigen Ort der deutschen Logistikbranche, an der belebten Weserpromenade in der Innenstadt, nur wenige Minuten Fußweg vom Rathaus und Bürgerschaft entfernt und in unmittelbarer Nähe zum Stammsitz des Logistikkonzerns Kühne+Nagel.

In den Räumen der taz Bremen in der Pieperstraße 7 nahm das Projekt seinen Anfang. Es war ein Abend wohl Anfang Dezember 2015, an dem ein kleines Gespräch zu etwas Großem wurde. Der damalige Redakteur der taz Bremen, Henning Bleyl, hatte – so erinnere ich mich – an einem seiner Texte zur NS-Vergangenheit des Konzerns Kühne+Nagel weiter recherchiert. Wir tauschten uns über einen Skandal aus, dem mehr Aufmerksamkeit gebührte: Kühne+Nagel spielte während des Nationalsozialismus europaweit eine zentrale Rolle beim Abtransport „arisierten“, also geraubten, jüdischen Eigentums und dessen „Verwertung“. Frank Bajohr, der Leiter des Münchner Zentrums für Holocaust-Studien, attestiert den Geschäften der Spedition während des NS eine „relative Nähe zum Massenmord“.

Statt die Geschichte transparent aufzuarbeiten, leugnete das Unternehmen lange die Relevanz. Unser großer Gegenspieler: der Firmenerbe Klaus-Michael Kühne. Der Milliardär gehört zu den reichsten Deutschen, spart mit seinem Wohnsitz in der Schweiz Steuern, ist Kunstmäzen und Großsponsor vom Hamburger Sportverein. Kühne spricht zwar mittlerweile von einem „Bedauern über die Vorkommnisse im ‚Dritten Reich‘ “, sperrt sich aber bis heute gegen eine unabhängige, externe Untersuchung der Firmengeschichte.

Baustelle des Mahnmals im April, in unmittelbarer Nähe zum Logistikkonzern Kühne+Nagel   Foto: Jean-Philipp Baeck

Gleichzeitig plante Kühne+Nagel damals, im Jahr 2015, seinen einstigen Stammsitz in Bremen auszubauen und der Stadt dafür ein Grundstück abzukaufen. Ein Hebel, um den journalistischen Inhalten in anderer Form Gewicht zu verleihen? Die Idee entstand: Könnte man genug Spenden sammeln, um der Stadt für vier Quadratmeter doppelt so viel Geld zu bieten wie der Logistikkonzern? Was, wenn man Kühne+Nagel auf diese Weise ein Mahnmal direkt vor die Tür und deren Leugnung der Dimension der eigenen Schuld etwas entgegensetzte?

Wir errechneten einen Kaufpreis von 4.400 Euro. Konny Gellenbeck, die langjährige Leiterin der taz-Genossenschaft, war ebenso mit an Bord wie die damaligen taz-Geschäftsführer Andy Bull und Kalle Ruch. Wir verabredeten ein Trommeln für die Spendensammlung auf allen Kanälen. Vom Engagement unserer Le­se­r*in­nen wurden wir überwältigt. Binnen fünf Tagen kamen über 15.000 Euro zusammen, die Summe wuchs später auf über 27.000 Euro.

Es reichte locker für ein Angebot für vier Quadratmeter. Die Stadt lehnte ab, doch wir machten weiter. Ein Teil der Spendensumme ging dann an die jüdische Gemeinde in Bremen für die Unterstützung bedürftiger Gemeindemitglieder, zu denen Holocaust-Überlebende gehören. Mit dem Rest startete die taz einen Gestaltungswettbewerb. Aus über 60 Einsendungen – von bekannten Künst­le­r*in­nen wie Schulklassen – wählte die Jury den Mahnmal-Entwurf von Evin Oettingshausen aus: ein tiefer Schacht, mit Einblicken von oben und den Seiten, an dessen Wänden die Schatten an die geraubten Möbel erinnern.

Die taz stieß das Projekt „Arisierungs“-Mahnmal in Bremen an. Der Errichtung des Mahnmals am belebten Standort an der Hauptbrücke über die Weser ging ein jahrelanges Ringen voraus.

Alle Texte zum Mahnmal und die Chronologie: taz.de/mahnmal

Im taz Salon Bremen greifen wir den gesellschaftlichen Aushandlungsprozess auf und möchten mit Ihnen über das Mahnmal diskutieren.

Wann: Di., 27.6.2023, 19 Uhr Wo: Theaterschiff Bremen Tiefer 104 / Anleger 4 28195 Bremen

Der Treffpunkt für die Führung am Mahnmal um 18 Uhr ist gegenüber dem Theaterschiff.

Ein Marathon der gesellschaftlichen wie bürokratischen Aushandlungen folgte: in Gesprächen, auf Ausstellungen und Symposien in der Bremischen Bürgerschaft, in Ausschüssen und Parlamentssitzungen. Initiator Henning Bleyl, heute Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Bremen, widmet sich mit Evin Oettingshausen bis heute unablässig der Realisierung und der Thematik. Bremer Po­li­ti­ke­r*in­nen nahmen sich ebenfalls des Projekts an. 2016 beschlossen alle Fraktionen der Bremischen Bürgerschaft den Bau des Mahnmals, 2022 der Bremer Senat den Baubeginn.

Finanziell getragen werden soll es von allen Profiteuren der früheren nationalsozialistischen Beutegemeinschaft: der Zivilgesellschaft, der Stadt und der Logistikbranche. Für Letztere beteiligt sich der Verein Bremer Spediteure, gibt sein Geld wohl aber nicht direkt für das Mahnmal, sondern über den Umweg einer Ausstellung im Bremer Focke-Museum.

Bestaunt werden kann das Mahnmal schon, offiziell eingeweiht wird es voraussichtlich im September. Sein Bau war und ist nur der Anfang: Seit der Spendensammlung im Dezember 2015 entstanden Masterarbeiten, künstlerische Aktionen, temporäre Mahnmale, internationale Ausstellungsbeiträge, Radioreportagen und Regionalromane.