Pleite und ohne Regierung

Viele Politiker im Libanon sind Milliardäre – während die Bevölkerung unter Armut leidet. Durch Klientelismus haben einflussreiche Politiker seit Ende des Krieges (1975–90) den öffentlichen Sektor geschröpft und sind damit reich geworden. Durch die massive Korruption ist der Staat pleite. 2019 führte das zu einer Wirtschaftskrise. Im Februar hatte die Regierung den offiziellen Umrechnungskurs zum US-Dollar verändert und die Lira um 90 Prozent abgewertet. Ein US-Dollar entspricht damit 15.000 Lira – das ist noch weit unter dem tatsächlich im Markt genutzten Kurs. Wechselstuben kaufen einen Dollar für rund 100.000 Lira.

Durch die Krise verloren Tausende ihre Jobs. Gut ausgebildete Ärz­t*in­nen immigrierten auf die Arabische Halbinsel, junge Menschen studieren in Frankreich oder Kanada. Eine Mittelschicht gibt es kaum noch. Menschen ohne Perspektiven versuchten, über Belarus oder das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Diejenigen, die blieben, leiden unter hohen Mieten in US-Dollar, horrenden Telefongebühren, unbezahlbarer Medizin und ausbleibendem Strom.

Die Unzufriedenheit führte im Oktober 2019 zu Massenprotesten. Der damalige Ministerpräsident Saad Hariri trat zurück, doch die alte Politikerriege blieb erhalten. Sein Nachfolger Hassan Diab legte sein Amt nach der schweren Explosion im Beiruter Hafen im August 2020 nieder. Ihm folgte Najib Mikati. Bei seinem Amtsantritt sprach Mikati davon, dass libanesische Mütter ihre Kinder nicht mehr ernähren könnten. Das Wirtschaftsmagazin Forbes schätzt das Vermögen des 67-Jährigen auf 2,5 Milliarden Euro. Er ist nur geschäftsführend im Amt, denn vor einem Jahr wurde neu gewählt. Derzeit herrscht ein politischer Stillstand, da sich die Parteien nicht auf eine Regierung einigen können – es fehlt an Mehrheiten.

Statt das Land aus der Krise zu ziehen, machen Politiker Stimmung gegen Geflüchtete – und lenken so von der eigenen Untätigkeit ab. Seit Jahresbeginn sollen rund 1.500 Sy­re­r*in­nen festgenommen und mehr als 700 davon nach Syrien abgeschoben worden sein.

Der Rassismus gegen Sy­re­r*in­nen hat einen historischen Ursprung, denn mit dem Krieg im Libanon ab 1975 besetzte das syrische Militär das Land. Bedingt durch die Inflation empfinden es Li­ba­ne­s*in­nen als ungerecht, dass Organisationen sich um die Belange von Sy­re­r*in­nen kümmern.

Laut einem Bericht des WFP von 2022 benötigen 90 Prozent der syrischen Familien und 60 Prozent der libanesischen Bevölkerung humanitäre Hilfe. Initiativen und NGOs versuchen, die Lücke zu füllen, die der untätige Staat hinterlässt. Doch das schafft Abhängigkeit. Steuerreformen, eine Umstrukturierung des Banken- und Energiesektors und die Bekämpfung von Korruption finden nicht statt.

Julia Neumann