Andreas Speit
Der rechte Rand
: Warum sich ein AfD-Mann zu Unrecht von vier Stinkefingern beleidigt fühlt

Keine Zweifel ließ der Richter im Amtsgericht Hamburg am Freitag vergangener Woche zu Beginn des Verfahrens gegen Sabine K., Ruthild S., Kay S. und Ernst K. darüber aufkommen, dass er sich der politischen Spannung des Verfahren „sehr bewusst“ sei: „Da bin ich sehr sensibel.“ Der politische Hintergrund wurde im Sitzungssaal 267, anders als bei vielen Verfahren, bei denen Rechtsextreme involviert sind, nicht ausgeblendet. Nach knapp zwei Stunden sprach der Richter die Beschuldigten zwischen 50 und 70 Jahren vom Vorwurf der Beleidigung frei. Erleichterung auf der Anklagebank und Freude auf den Zuschauerplätze. „Wie so was ausgeht, weiß man ja nicht so“, sagte vor dem Urteil Ruthild S. Auch die Staatsanwältin hatte Freispruch gefordert.

Bei einer Demonstration von Querdenkenden in Hamburg sollen die vier nun Freigesprochenen den Stinkefinger gezeigt haben. Der Vorsitzende der AfD Buchholz/Nordheide, Reinhard Spicker, fühlte sich beleidigt und erstattete Anzeige – jedoch erst, nachdem wiederum Ernst K. noch während der Demonstration Anzeige erstattet hatte, da Spicker den 58-Jährigen während der Demonstration als „feigen Schwulen“ beschimpft hatte.

Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen in diesem Fall jedoch ein, weil lediglich Aussage gegen Aussage stehe. Wegen der späteren Anzeige des AfD-Vorsitzenden Spicker aber leitete sie ein Verfahren ein. „Diese Täter-Opfer-Verkehrung wollten wir nicht mit uns machen lassen“, erklärte Ruthild S.

Foto: Jungsfoto: dpa

Andreas Speitarbeitet als freier Jour­nalist und Autor über die rechte Szene nicht nur in Norddeutschland.

Seit Jahrzehnten beteiligen sich die Beschuldigten an zivilgesellschaftlichen Initiativen: gegen Atomkraft und für Frauenrechte, gegen Rechtsextreme und für Fluchthilfe, gegen soziale Ausgrenzung und für Bildungschancen. Teils beruflich, teils ehrenamtlich. Sie organisierten Widerständigkeit und erfuhren Repression. Dass sie sich davon nicht haben einschüchtern lassen und bei dieser Verhandlung aussagten – darüber zeigte sich der Richter erfreut.

Wie die Auseinandersetzung verlief, beschrieben vor allem Ruthild S. und Ernst K. Am 8. Januar 2022 habe er die Demo beobachten und schauen wollen, wer kommt, erzählt Ernst K. „Die halbe AfD-Fraktion fotografierte ich.“ Auch Ruthild S. war vor Ort, sie habe wissen wollen, ob erneut „NPD und AfD“ mitmarschieren. Schließlich stießen auch Sabine K. und Kay S. dazu. Über einen Lautsprecherwagen habe ein Querdenkender die Teilnehmenden aufgerufen, Gegendemonstranten anzuzeigen, wenn sie etwa den Mittelfinger zeigen. Spontan taten die vier genau das, als der Demozug an ihnen vorbeizog. Spicker sei nicht vor Ort gewesen, sagte Ruthild S., und die 64-Jährige schob nach, dass die Geste eine spontane Reaktion auf die Ansage gewesen sei.

Ein Video von der Demonstration auf einem Querdenken-Kanal bestätigt die Schilderung: Unmittelbar nach dem Zeigen des Mittelfingers suchte eine Demoteilnehmerin die verbale Konfrontation mit den Vieren. Erst rund zehn Minuten später kam Spicker mit einem großen Bernhardinerhund dazu und versuchte, sie von hinten zu verunsichern. In aggressivem Ton duzte und beleidigte er Ruthild S. Als Ernst K. sagte, dass er mit dem Handy ein Bild machen wolle, um Anzeige erstatten zu können, erwiderte Spicker, das solle er machen, denn dann bekäme er dessen Adresse. Und Spicker beleidigte Ernst K.

Erst rund zehn Minuten später kam Spicker mit einem großen Bernhardinerhund dazu

In seiner Urteilsbegründung signalisierte der Richter am Freitag, dass die Staatsanwaltschaft in den Aussagen beide Anzeigen betreffend hätte erkennen müssen, dass nach höchster Rechtsprechung eine Beleidigung durch Worte oder Gesten nur vorliegt, wenn sie sich direkt gegen den Betroffenen richtet. Der Verdacht gegen Spicker, so der Richter, hätte verfolgt werde müssen.