Entspannt durch den Tag und nachtaktiv

Verschwundene Arbeitswelten, Kunst als Politik und unsichtbare Nachbarn: Ein Blick auf das Programm des kommenden Kurzfilmfestivals in Hamburg

Manchmal wackeln die Bilder: Gedreht wurde „Der andere Tag“ mit automatischen Wildkameras Foto: Timo Schierhorn

Von Wilfried Hippen

Etwas zeigen, das so noch nie gesehen wurde: Mit diesem Anspruch sollten Fil­me­ma­che­r*in­nen eigentlich immer an die Arbeit gehen. In diesem Sinne gelungen ist „Der andere Tag“ von Timo Schierhorn, der dieser Tage im Rahmen des 39. Hamburger Kurzfilmfestivals seine Weltpremiere haben wird. Er zeigt eine Parallelwelt, gleich neben der, in der wir leben, wohnen und arbeiten; so nah, und doch bisher so gut wie unsichtbar: Wenn Wildtiere nachts die Wälder durchstreifen oder auch mal die Ausläufer menschlicher Ansiedlungen, und nach Nahrung suchen, dann tun sie das ja gerade, weil sie dabei nicht gesehen – und gejagt – werden wollen.

Schierhorns im doppelten Sinn einleuchtendes Konzept: Er hängte Infrarotkameras an Bäumen auf, die durch Bewegungsmelder immer dann Aufnahmen machten, wenn nachtaktive Tiere in ihre Sichtfelder gerieten. Abgesehen von ein paar bei Tageslicht aufgenommen Einstellungen am Ende des Films zeigt der Hamburger Regisseur wesentlich nur diese in seiner Abwesenheit fotografierten Naturszenen: Schwarz und Grautöne, in denen nur die reflektierenden Augen der Tiere unnatürlich hell leuchten. Hirsche, Rehe, Wildschweine, Marder und andere Tiere werden so in ihrer natürlichen Lebenswelt gezeigt. Einige von ihnen streiften den Baum oder Busch, an dem die Kamera befestigt war, dann wackeln die Bilder.

Dies ist auch schon das Aufregendste am ganzen Film. Und doch werden seine 30 Minuten nicht lang, denn Schierhorn spielt hier nicht zuletzt mit einer urmenschlichen Lust am Jagen – auch wenn die Tiere gänzlich unbeschadet in die automatischen Bildfallen tappen.

Auch der ungarische Videokünstler Gusztáv Hámos nutzt mit Google Earth moderne Technologie für seinen Essayfilm „In Limbo“, zum Teil in Hamburg produziert und gefördert. Mit der Software zoomt er am Beginn des Films aus dem Weltraum auf Budapest und dort dann weiter auf den geschichtsträchtigen Freiheitsplatz Anhand der Architektur und dort aufgestellter Denkmäler erzählt er episodenhaft die Geschichte Ungarns nach. Das aber nur nebenbei, denn der Haupterzählstrang seines 31 Minuten langen Films handelt von einem jungen Künstler namens Kiesling, der in den Zeiten des Kalten Krieges versucht, sich dem ungarischen Wehrdienst zu entziehen.

Hámos und seine Co-Regisseurin Katja Pratschke arbeiten auch mit Techniken wie Digital Imaging und 3-D-Modelling und stellen deren Möglichkeiten der Bildbearbeitung so technikbegeistert aus, dass es manchmal droht, zum Selbstzweck zu werden und abzulenken vom Thema. Doch im Kern ist „In Limbo“ ein ganz traditioneller Fotofilm mit unbewegten Bildern und einem ständig präsenten Off-Erzähler. Erzählt wird von den Mühen eines subversiven Künstlers in einem realsozialistischen System. Mindestens ebenso interessant ist der zweite Fokus: Hámos und Pratschke zeigen auch, wie in Ungarn das jeweils herrschende System bis heute die Kunst als Propagandamittel nutzt. Interessant daran ist, dass dieser Kulturkampf in Budapest, eben, anhand von Denkmälern geführt wird: Die werden auch schon mal über Nacht abgerissen. Oder auf Demonstrationen werden „Gegendenkmäler“ enthüllt.

Ein Dokumentarfilm kann mitunter schon nach ein oder zwei Jahren historisch wirken

Beide Filme laufen im „Deutschen Wettbewerb“ des Hamburger Festivals, das am kommenden Dienstag eröffnet wird. Eine seiner Besonderheiten sind die verschiedenen Programmblöcke unter dem Rubrum „Labor der Gegenwart“. Einer davon trägt den Titel „Hamburger Positionen 1: Tageswerke“, und dort wird ein weiterer Fotofilm gezeigt: „Der Tag eines unständigen Hafenarbeiters“ von Leonore Mau und Hubert Fichte aus dem Jahr 1966 dokumentiert anhand von Schwarz-Weiß-Fotos, eben, einen Tag im Leben eines Hamburger Hafenarbeiters. Dieser ist nicht fest angestellt, sondern muss jeden Tag aufs Neue hoffen, dass so viel Arbeit anfällt, dass auch die „Unständigen“ am unteren Ende der proletarischen Hierarchie für eine oder zwei Schichten benötigt werden.

Der Schriftsteller Fichte hat diese Milieustudie mit der gleichen ethnografischen Neugier betrieben wie seine Forschungsreisen nach Haiti, Äthiopien oder die Dominikanische Republik. Sein Off-Kommentar ist gespickt mit Begriffen aus dem Jargon der Hafenarbeiter aus jener Zeit. So werden etwa am Beginn des Films die Werkzeuge vorgestellt, mit denen damals noch das Stückgut be- oder entladen wurde. Handhacker, Griepe oder Expeller sind heute höchstens noch in Museen zu finden, und mit ihnen hat sich die Arbeit im Hafen so radikal geändert, dass der Film ästhetisch immer noch erstaunlich modern wirkt – grundsätzlich macht Hámos Jahrzehnte später kaum etwas anderes –, aber selbst auch wie ein Dokument aus einer lange vergangenen Zeit.

Nette 19 Minuten über einen netten Menschen: „Kalle – Entspannt durch den Tag“ handelt von einem Masseur im Hamburger Schanzenviertel Foto: Karin Missy Paule

Dass ein Dokumentarfilm mitunter schon nach ein oder zwei Jahren historisch wirken kann, zeigt „Kalle – Entspannt durch den Tag“ von Karin Missy Paule: Die Hamburger Fotografin und Filmemacherin hat ihn in den Zeiten der Hygienebeschränkungen gedreht. Deshalb tragen die Menschen in vielen Situationen einen Mundschutz, und die damalige Selbstverständlichkeit ist heute schon wieder eine leicht irritierend wirkende Erinnerung. Davon abgesehen bietet dieser Kurzfilm aber eine interessante Ergänzung zu dem von Mau/Fichte: Auch dies ist eine Milieustudie, die einen Tag im Leben eines Hamburgers dokumentiert. Seine Hauptfigur Kalle ist ein Masseur, der seit 35 Jahren im Hamburger Schanzenviertel arbeitet und bei Fangopackungen und Griffen in angespannte Nacken mit seinen Kun­d*in­nen über Gott, die Welt und Fußball plaudert.

Dies ist ein netter Film über einen netten Menschen, gut fotografiert und in seinen knapp 19 Minuten immer kurzweilig und unterhaltsam. Und wenn man beide Film nebeneinander sieht, kann man am konkreten Beispiels sehen, wie radikal sich die Arbeitswelt nicht nur in Hamburg verändert hat, und das nicht nur Stückgut­umschlag und Wellness betreffend. Und genau das Talent, solche Querverbindungen herzustellen: Das zeichnet doch ein gut programmiertes Filmfestival aus.

39. Kurzfilmfestival Hamburg: 6.–11. 6., Hamburg, diverse Programm­kinos. Alle Infos: https://festival.shortfilm.com