Kılıçdaroğlu im
politischen Spagat

Vor der Stichwahl in der Türkei fischt der Oppositionskandidat nach Stimmen von rechts – und verprellt damit seine linken WählerInnen

Sprach sich nach der Wahl für den Amtsinhaber aus: Der Drittplatzierte Sinan Oğan (links) und Noch-Präsident Erdoğan bei einem Treffen in Istanbul am 19. Mai Foto: Murat Cetinmuhurdar/PPO/reuters

Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

Wenige Tage vor der Stichwahl um das Amt des Präsidenten in der Türkei hat der im ersten Wahlgang drittplatzierte Sinan Oğan seine Anhänger dazu aufgerufen, den amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu unterstützen. Erdoğan, der im ersten Wahlgang am 14. Mai auf rund 49,3 Prozent der Stimmen gekommen war, könnte mit diesen Stimmen die Stichwahl am 28. Mai gewinnen. Allerdings ist sich das Lager des Ultranationalisten Oğan, der im ersten Wahlgang etwa fünf Prozent der Stimmen geholt hat, nicht einig. Der Führungskreis ist gespalten, einige seiner bisherigen Mitstreiter haben sich für den Oppositionskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu ausgesprochen.

Doch völlig unabhängig von den Stimmen, die das Oğan-Lager möglicherweise zu verteilen hat, steht Kılıçdaroğlu am kommenden Sonntag vor einer schier unlösbaren Aufgabe. Er kam im ersten Wahlgang auf knapp 45 Prozent und muss nun zusätzliche Stimmen im rechten, nationalistischen Lager sichern. Darüber hinaus muss er NichtwählerInnen mobilisieren, ohne seine bisherigen WählerInnen zu verprellen.

Kılıçdaroğlu und sein Team setzen nach dem ersten Wahlgang nun voll auf rechte nationalistische WählerInnen – in der Erwartung, dass linke und kurdische WählerInnen sowieso nicht zu Erdoğan überlaufen werden.

Seine Themen sind nun „Terrorismus bekämpfen“ und Flüchtlinge abschieben, insbesondere die knapp vier Millionen SyrerInnen im Land. Zwar hat Kılıçdaroğlu auch zuvor schon davon gesprochen, dass die Türkei angesichts von Wirtschaftskrise und verbreiteter Armut keine Kapazitäten für die Versorgung von Flüchtlingen mehr habe. Doch in dem eigentlichen Programm der Opposition ist vorgesehen, Geflüchtete nur dann nach Syrien zu schicken, wenn zuvor in Verhandlungen mit dem dortigen Regime deren Sicherheit gewährleistet wird. Davon ist jetzt nicht mehr die Rede. Nun sollen alle Flüchtlinge „sofort“ zurückgeschickt werden.

Hatte Kılıçdaroğlu in seiner eigentlichen Wahlkampagne Demokratie, Gerechtigkeit, und Freiheitsrechte in den Mittelpunkt gestellt, will er nun „mit aller Härte“ den Terrorismus bekämpfen. Das ist auch eine Reaktion auf eine verleumderische Kampagne des Erdoğan-Lagers. Das versucht ihn seit Wochen mit gefälschten Videos als angeblichen Befehlsempfänger der PKK-Führung darzustellen – weil Kılıçdaroğlu indirekt auch von der kurdischen HDP unterstützt wurde. Als Reaktion darauf wirft Kılıçdaroğlu nun Erdoğan vor, er hätte ja selbst mit „den Terroristen“ verhandelt.

Diese Diktion wirft allerdings die Gefahr auf, dass viele kurdische WählerInnen bei der Abstimmung am kommenden Sonntag gleich zu Hause bleiben. Wahlenthaltung aus Frustration, nicht nur bei den Kurden, sondern auch bei vielen linken WählerInnen in den Metropolen, könnte sich als das größte Problem Kılıçdaroğlus herausstellen. Ihm und seiner Partei Cumhuriyet Halk Partisi (CHP) wird vorgeworfen, sie hätten zu wenig dagegen getan, dass Stimmen durch Wahlmanipulation falsch oder gar nicht gezählt wurden. Die Istanbuler CHP-Vorsitzende Canan Kaftancıoğlu erklärte, um dem entgegenzuwirken: Man habe nun alles unter Kontrolle, die BürgerInnen sollten auf jeden Fall wählen gehen.

Im Wahlkampf für die Stichwahl verzichten Regierung und Opposition auf Großveranstaltungen, er findet vor allem im Fernsehen und über die sozialen Medien statt. Recep Tayyip Erdoğan tourt durch das Erdbebengebiet und versichert den Menschen den Wiederaufbau ihrer Häuser. Dabei kann er noch auf immer sein Macher-Image vertrauen. Trotz des Regierungsversagens nach dem Beben sagen viele: Wenn das einer schafft, dann Erdoğan.

Trotzdem hoffen viele auf die Opposition. Vor allem junge WählerInnen sagen: „Ich gehe auf jeden Fall zur Stichwahl.“

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