Wenig ist besser als nichts

Bisher kaum Fortschritte, nun kompletter Stopp. Changing Cities kritisiert Stillstand beim Mobilitätsgesetz

Von Claudius Prößer

„Das ist doch kein Radnetz“, lautete eine Kampagne des Vereins Changing Cities vor der Wiederholungswahl im Februar. Sie sollte die Abstimmenden daran erinnern, wie hoch das Mobilitätsgesetz von 2018 die Ziele bei der Radinfrastruktur gesteckt hat – und aufzeigen, wie wenig Rot-Rot-Grün und Rot-Grün-Rot tatsächlich umgesetzt hatten. Die AktivistInnen hatten sogar zum Maßband gegriffen, um zu prüfen, ob Radwege oder -spuren den im Berliner Radverkehrsplan festgelegten Standards genügten.

Jetzt, zum 5. „Geburtstag“ des in Deutschland einzigartigen Landesgesetzes, hat Changing Cities erneut abgerechnet – und das Ergebnis fällt nicht besser aus: Von den 2.698 Kilometern Radinfrastruktur, die das Gesetz dem Senat aufgibt, sind mittlerweile 121 Kilometer oder 4,5 Prozent zumindest teilweise umgesetzt. Aus dem vergangenen Halbjahr stammen lediglich 8 Kilometer.

Für die Zielzahl addiert die Organisation das Vorrang- und das Ergänzungsnetz, die darin nicht enthaltenen Hauptstraßen, die auch verbesserte Radverkehrsanlagen erhalten müssen, und die Radschnellverbindungen. Wie Jens Steckel von Changing Cities am Mittwoch vorrechnete, beläuft sich die Erfolgsbilanz sogar nur auf 28 Kilometer oder 1 Prozent des Pensums, wenn die Wege wirklich alle neuen Standards erfüllen.

Eine Grafik, die Steckel zeigte, stellt den vom Gesetz festgelegten Hochlauf bis 2030 als exponentielle Kurve dar. Die verläuft 2023 zwar noch relativ flach, aber auch daran gemessen liegen die Kreuzchen, die den Ist-Zustand markieren, weit unter dem Soll und kratzen beinahe an der x-Achse.

Die von Senatorin Manja Schreiner (CDU) verordnete Zwangspause schmeckt Changing Cities natürlich nicht – um im Bild zu bleiben, das Sprecherin Ragnhild Sørensen bemühte: „Das ist, als ob in einer Familie jemand anderes fürs Essen zuständig ist und sagt: ‚Vegane Gerichte kommen nicht mehr auf den Tisch, auch nicht die, die schon zubereitet sind, stattdessen machen alle jetzt Listen, was schon mal gekocht wurde.‘“

Auch Steckel und Sørensen befürchten, dass durch den Stopp Fördermittel verfallen und Planungen in diesem Jahr nicht mehr vergeben werden können. Besonders beunruhigt sie die Vorstellung, dass das von Schreiners Vorgängerinnen mühsam akquirierte Personal die Motivation verliert und sich abwerben lässt – damit würde der Mobilitätswende eine wichtige Grundlage fehlen.

Politisch ist die Rechnung für Sørensen klar: „Gleichberechtigung sieht für Privilegierte wie Benachteiligung aus“ – auf diesem Ticket habe die CDU viele Autofahrende für sich gewonnen. Die SPD dagegen müsse sich nun zum Mobilitätsgesetz bekennen und einen „Kahlschlag verhindern“.