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Emanzipiert vom Idyll

Die RAW-Fototriennale in Worpswede ist politischer, internationaler und weiblicher geworden – und entfernt sich immer wieder mal von der Fotografie

Mächtige Symbolbilder: der Kampf iranischer Frauen, wie ihn Social Media zeigen Foto: Hoda Afshar

Von Jan Zier

Stell dir vor, du bist in Worpswede und überall hängen nur Fotos. Also: fast überall. Jedenfalls aber in allen vier großen Ausstellungshäusern jenes backsteinsatten Künstlerdorfes, sonst ja ein Hort gut abgehangener Landschaftsmalerei in Öl. Jetzt dominiert hier zeitgenössische Fotografie aus aller Welt – das dreijährlich stattfindende „RAW“-Festival ist wieder eingezogen. „Turning Point. Turning World“ ist in diesem Jahr das Motto, und es geht um alle ganz großen Fragen: Krieg, Klimawandel, Flucht, Protestbewegungen, die eigene Identität, die Wahrheit.

Manchmal bilden die beiden Kunstwelten nun einen scharfen Kontrast. Weil: So ganz verzichten wollen die Museen ja doch nicht auf jene Hausheiligen, die ihnen sonst die Gäste bringen. In der Worpsweder Kunsthalle empfangen einen also zunächst lauter Fritz Mackensens und Otto Modersohns und Hans am Endes, norddeutsches Idyll von vor über 100 Jahren, Birken, Reetdächer, Bauernwelten aus der Sicht der Düsseldorfer Exilanten. Einen Raum weiter beginnt übergangslos die Ausstellung „#Fake“, mit teils verstörend bearbeiteten Fotos aus den USA der 1940er- bis 1960er-Jahre, mit denen die Polin Weronika Gęsicka den American Way of Life konterkariert. Auch das allgegenwärtige Thema „Künstliche Intelligenz“ hätte hier gut Platz gefunden, aber als Festivaldirektor Jürgen Strasser seine Triennale konzipierte, war Chat GPT halt noch gar nicht veröffentlicht.

Es folgen mal mehr dokumentarische, mal eher konstruierte Serien rund um das Thema „Fake“, die manchmal auf wunderbare Weise ganz neue Wirklichkeiten erschaffen. „The City“ von Lori Nix & Kathleen Gerber etwa: In der U-Bahn entwickelt sich eine Wüste, eine menschenleere Bibliothek entfaltet den Charme eines Lost Place; in ihrer Mitte wächst ein riesiger Baum einem kleinen Loch in der Decke entgegen.

Nur ein paar Ecken weiter, in der Großen Kunstschau Worpswede, ist „#Risk“ zu sehen, und hier wird es politisch, ohne zu missionarisch zu sein: Auf Stelen aus Holz, die ein wenig an die Berliner Mauer erinnern, hat die in Australien lebende Iranerin Hoda Afshar Bilder aus den Protesten im Iran aufgezogen: Fotos aus den sozialen Medien, unscharf, rauschend, überlebensgroß. Mächtige Symbolbilder sind es, die sich einem entgegenstellen und die den Kampf der Frauen dort erst fassbar machen. Fotos, die den Konflikt zu uns tragen und um ihrer Botschaft Willen verbreitet werden sollen.

Welche Gefahr in solchen Fotos aber auch steckt, zeigen die Arbeiten von Siu Wai Hang aus Hongkong von 2019: Die Gesichter der Demonstrierenden sind hier sorgfältig ausgeschnitten, auch um sie vor der chinesischen Verfolgung zu schützen. Die großformatigen Drucke auf Acrylplatten haben beinahe bildhauerische Qualitäten, sie sind einer Installation näher als einem klassischen Foto. Die Not der Menschen wird hier noch sichtbarer, indem man ihnen ihre Identität, ihre Individualität nimmt. Ohnehin verschwimmen auf dem RAW-Festival die Grenzen der Kunstgattungen: Tina Fariftehs „The Flood“ etwa ist eine Videoarbeit, die sich der Geflüchteten im Mittelmeer annimmt. Eindringlich ist hier, was man nur im Off hört, während meditativ das blaue Meer über die Leinwand rauscht.

Viele der Künst­le­r:­in­nen werden zum ersten Mal in Deutschland ausgestellt

In seiner vierten Ausgabe ist das RAW-Festival noch anspruchsvoller, ist die Kunst noch konzeptioneller, aber auch internationaler, weiblicher und vielseitiger geworden. Das liegt auch daran, dass die vier Einzelschauen je eigene Ku­ra­to­r:in­nen haben. Und so sind hier viele Künst­le­r:in­nen zum ersten Mal in Deutschland zu sehen. Auf große Namen hingegen wird bewusst verzichtet. Der Weg ins Teufelsmoor soll sich ja lohnen: Strasser, der auch die Wiesbadener Fototage verantwortet, will nicht reproduzieren, was auch anderswo zu sehen ist – und im Nordwesten gibt es so schnell nichts Vergleichbares.

Der Nachteil des Festivals: Worpswede, für viele „irgendwo bei Bremen“ gelegen, ist eher ab vom Schuss, ohne Auto wird die Anreise mindestens kompliziert. Trotzdem eignet sich der Ort im Landkreis Osterholz hervorragend für das Festival. Nicht nur, weil Fotograf Strasser, dessen Vater hier schon Künstler war, zeitweise selbst hier wohnt. Auch nicht nur, weil das Festival dem Ort neue Impulse verleiht. Sondern auch, weil hier alles dicht beisammen bleibt, trotz der verschiedenen Ausstellungsorte.

Schutzmaßnahme gegen Repression: De­mons­tran­t*in­nen in Hongkong, sorgfältig anonymisiert Foto: Siu Wai Hang

Im Mittelpunkt der einstigen Künstlerkolonie, dem Barkenhoff, jenem Jugendstilbau, in dem Heinrich Vogeler wohnte, zeigen sie „#Next“. Da geht es um die womöglich eher überfordernde Frage, wie das alles weitergeht, angesichts der ökologischen Krise. Die Ausstellung emanzipiert sich an diesem Ort immer weiter von der Fotografie – das Ergebnis ist mal etwas verkopft und mal erstaunlich poetisch.

Naturkundlich abgelichtete Schmetterlinge werden in Videos vor wechselnde, lebensfeindliche Landschaften montiert, Häfen, verödete Strukturen, alles ist aus der Vogelperspektive zu sehen. Fotografie im eigentlichen Sinne zeigt hier nur Shane Hynans „Beneath“, ein eher dokumentarfotografisches Projekt zum Ende des industriellen Torfabbaus in Irland: Verödete Industrielandschaften kontrastieren unser oft romantisches Bild der „grünen Insel“, diese Fotos erzählen von schwerer Arbeit und fest verwurzelter kultureller Tradition, von Baracken und ökologischem Neuanfang.

Streng formal: aus der Serie „Peripherie – Milieubilder aus Norddeutschland“ Foto: Rüdiger Lubricht

Wer näher an der Fotografie bleiben will, ist bei „#Ego“ im Haus im Schluh besser aufgehoben: Mit vielen Porträts werden hier Migrationsgeschichten erzählt, es geht – nochmals – um Frauenbilder aus dem Iran, um das eigene Zuhause, um den Widerspruch zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, um Familiengeschichten.

Wer aber nach vier Ausstellungen glaubt, das war es nun, der irrt. Da sind ja noch diverse Sonderausstellungen, in denen etwa die Berliner Ostkreuzschule für Fotografie zu Wort kommt, Arbeiten des Deutschen Jugendfotopreises zu sehen sind oder – draußen in der Marcusheide – die sehr streng formale Serie „Peripherie – Milieubilder aus Norddeutschland“ von RAW-Mitbegründer Rüdiger Lubricht. Von jedem Worpswede-Idyll ist man hier maximal weit entfernt. Und das mitten im Ort.

„RAW Photo Triennale“: bis 11. 6.;

www.raw-photofestival.de

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