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Ausgehen und rumstehen von Jenni ZylkaNoch ’ne Minute, weg, weg, weg

Every 1s a winner, baby, thats the truth!“ Was braucht man Haare, wenn man singen kann wie Errol Brown von Hot Chocolate! Gewinner gab es bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises am Freitag genug, obwohl, na ja, akademietypisch einigten sich die Mitglieder dann doch auf wenige Filme, diese wurden aber mit umso mehr Preisen bedacht: „Im Westen nichts Neues“ kann neun neue Lolas auf den wachsenden Haufen an Oscars, Baftas und so weiter scheppern lassen. İlker Çataks „Das Lehrerzimmer“ freute sich wie Bolle über fünf, darunter auch die Gold-Lola für den „Besten Film“.

Wenn sich jetzt jemand wundert, dass die verhältnismäßig unaufgeregten Themen Schule und Wahrheitsfindung ausgerechnet in dieser Kategorie das global aufregende Thema Weltkrieg schlagen, sollte er noch mal nachdenken. Die rund 2.200 Akademie-Kolleg:innen hatten den Zusammenhang zwischen Erziehung und möglicher späterer Verblendung einfach für relevant genug befunden.

Der „Film der Gewerke“, wie die opulente Remarque-Adaption von ihrem Szenenbildner bei dessen Dankesrede genannt wurde, erzählt qua Vorlage zum Teil eine Retrospektive, wenn auch selbstredend mit Auswirkungen bis heute. Die Geschichte um die eifrige Lehrerin, die an den schulischen und sozialen Machtstrukturen verzweifelt, passt dagegen wie die Faust aufs Auge zum aktuellen Diskurs.

Dass die Akademie vielleicht auch den „kleinen“ Film gegenüber dem fetten Netflix-Streamer stärken wollte, könnte ebenfalls eine Rolle spielen. Jedenfalls wartete nach der von Jasmin Shakeri zum Niederknien scharfsinnig und fidel moderierten und von Sarah Bosetti mit einem grandiosen Klimaminuten-Intermezzo verzierten Verleihung gleich die nächste Herausforderung auf das in Schale geschmissene Publikum: die automatische Eingangstür des Berlinale-Palasts am Potsdamer Platz, durch die man für das gesellige Draußenstehen am lauen Frühlingsabend hindurchmusste. Denn die entpuppte sich als Szene aus „Der 1. Ritter“, in dem Richard Gere als Lancelot einen schwierigen Parcours aus pendelnden Äxten und schwingenden Medizinbällen absolvieren muss, um einen Kuss von Lady Guinevere (Julia Ormond) zu ergattern.

Die heimtückische Palast-Tür schloss sich am Freitag mit einer solchen Heftigkeit und ohne Vorwarnung, dass nicht wenigen Gästen der Inhalt ihrer teilweise roten (!) Getränke über die feine Kulturstaatsrobe kleckerte – es sei denn, sie wichen federleicht (mit vier Gläsern in der Hand) aus. Und ergatterten dafür einen Kuss von mir. Natürlich nur, wenn sie mir auch Sekt mitgebracht hatten.

Am Samstag schaute ich erschöpft ein bisschen den komischen Eurovision Song Contest und wünschte, der Filmpreis-Rotwein hätte die Flecken mal lieber auf den Kostümen der Siegerin (einer Schwedin) und der Zweitplatzierten (einer finnischen Band) hinterlassen und sie untragbar gemacht … Gewonnen wurde in einem aus schlammfarbenen Fetzen bestehenden Pseudo-Alien-Resurrection-Ripley-Kostüm mit Fake-Fingernägeln, die Finn:inn:innen trugen grausige pink- und neongrüne Puffärmel und wirkten wie eine Horde lächelnder All-inclusive-Animateur:innen aus der Hölle.

Zum Glück konnte man sich am Sonntag von der Aufregung erholen – am letzten Tag der Broken-Music-Vol.-2-Ausstellung lief ich mit dem großartigen Fluxus-Künstler Dieter Roth im Ohr durch den Hamburger Bahnhof und hörte zu, wie er Klavier spielend vor sich hinfluchte, weil die Aufnahme damals anscheinend nicht enden wollte: „Noch ne Minute, noch ne Minute, weg, weg, weg, weg mit den Minuten …“

So lassen sich auch prima Artikel schreiben. Noch ne Zeile, noch ne Zeile, weg, weg, weg, weg mit den Zeilen!

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