Die E-Book-Verlegerin
: Lyrisch und mit Haltung

Was ist ein Mikrotext? Nun, zuallererst wohl der Name eines Verlags. Einer, der das E-Book ernst und nicht als Ableitung vom gedruckten Vorbild hinnimmt. Nikola Richter, die Betreiberin und Geschäftsführerin von mikrotext, will aber nicht von einem „Kleinverlag“ sprechen. Denn trotz des Idealismus, den mitbringen muss, wer Bücher verlegt, spiele man so doch die unternehmerische Leistung herunter, die unabhängige Verlage in Konkurrenz zu großen Häusern erbringen.

„Reden wir von mikrotext lieber als kleinem Unternehmen“, sagt Richter, die den Verlag 2013 in Berlin gründete. E-only lautete damals das Konzept. Mittlerweile lässt Richter auch drucken, doch der Fokus auf E-Books besteht weiterhin. Die studierte Literaturwissenschaftlerin hat das utopische Element, das einmal im Internet steckte, nicht vergessen. Alles überall lesen zu können hält sie weiterhin für ein großartiges Modell, sagt sie. „Darin steckt ein großes Versprechen.“

Ein Mikrotext kann aber auch der Berührungspunkt zwischen Online- und Buchwelt sein, wenn man ihn selbstbewusst als Gattungsbeschreibung gleich auf die erste Buchseite druckt. Literatur habe sie schon immer im Internet gelesen, erzählt Richter. mikrotext, ihren Verlag, gründete sie daher vor allem als Leserin, die auf dem Buchmarkt nicht das fand, was sie lesen wollte. Die Transferleistung – aus dem Netz gefischt, zwischen zwei (elektronische) Buchdeckel verpflanzt – merkt man den von ihr verlegten Texten dabei an: Kurze Essays finden sich im Katalog, Kindheitsreflexionen, aber auch Seltsames wie „Kryptomagie. Zwanzig kleine suesse Cryptopoems“ von Yevgeniy Breyger, das in einer gräulichen Windows99-Ästhetik daherkommt.

Auch Dinçer Güçyeters „Unser Deutschlandmärchen“, das in mehreren Generationen das Leben türkischer Gast­ar­bei­te­r:in­nen erzählt und für den diesjährigen Leipziger Buchpreis nominiert ist, reiht sich ein. Mit 216 Seiten hat es zwar Romanlänge, doch vorab veröffentlichte und später weiter verarbeitete Facebook-Posts des Autors seien wichtiger Bestandteil der Geschichte, erzählt Richter. mikrotext will sich nicht nur über die Form definieren. „Sehr dezidiert mit Haltung“ sollen die von ihr verlegten Texte sein, sagt sie. „Ich will engagierte Literatur lesen, die auf das sich wandelnde Deutschland reagiert; sehr lyrisch, nicht manifestartig.“ Konservative, rückwärts gewandte Literatur interessiert sie nicht als Verlegerin. „Literatur soll Einfluss nehmen.“

Verlegen, so sagt Richter, die vor mikrotext ein Online-Literaturmagazin gründete und eine Berliner Lesebühne startete, habe oft etwas Rouletteartiges. Welche Texte sich verkauften – und wenn auch nur zum „Kaffeepreis“ von 2,99 Euro pro E-Book – lasse sich nur schwer einschätzen. „Ich arbeite viel mit Debüts“, sagt die Verlegerin. „Mit Stimmen, die auf dem Buchmarkt vorher eigentlich kaum bekannt sind. Einen Hallraum für diese Stimmen zu erarbeiten sehe ich als eine Aufgabe meiner Arbeit.“ Am Roulettespielen findet Richter Gefallen. Anders lässt sich kaum erklären, warum sie 2020 ein Jahr lang den Verlag in fremde Hände legte und sechs Gastverlegerinnen das mikrotext-Programm gestalten ließ.

Von den schließlich verlegten Texten kannte sie vorher gar nichts, sagt Richter. „Ich musste viel loslassen, viel von anderen lernen. Mittlerweile bildet der Verlag eine Persönlichkeit, die gar nicht mehr nur ich bin.“ Herausgekommen ist Literarisches, Reflexionen über Maskierungen – 2020 markierte immerhin das erste Pandemiejahr –, aber auch ein Kochbuch mit Rezepten „für ein gutes Klima“. 700 Euro hat sie an Fixkosten jeden Monat. Und wenn es gut läuft, bleiben ihr „ein paar Tausend Euro pro Monat an Gewinn, manchmal auch weniger, das muss man dann ausgleichen“.

Nikola Richter kennt auch die andere Seite des Verlegerschreibtisches. Theaterstücke, Artikel, Gedichte und Erzählungen hat die 46-Jährige über die Jahre verfasst. Zuletzt war sie auch außerhalb von mikrotext als Herausgeberin aktiv. Selbst schreiben, das stellt sie nach zehn Jahren mikrotext fest, tut sie heute vor allem Gebrauchstexte. „Und sehr viele E-Mails.“ Aber abends und am Wochenende, sagt sie, bleibt der Computer zugeklappt.

Julia Hubernagel