Frauen sind doppelt bestraft

Von Sven Hansen

Seit die Taliban Anfang April ein Arbeitsverbot für Frauen bei UN-Programmen verhängt haben, evaluiert die Weltorganisation ihren Einsatz am Hindukusch. Beobachter rechnen damit, dass sich die politische UN-Mission (Una­ma) zurückziehen könnte, die humanitären UN-Programme dürften wegen der großen Not aber weitergehen. „Solange wir mit unserer Lebensmittelhilfe die bedürftigsten Bevölkerungsgruppen erreichen, wollen wir im Land bleiben“, sagt Hsiao-Wei Lee, die Chefin des UN-Welternährungsprogramms (WFP) in Afghanistan, der taz. „Wir sind zur Hilfe verpflichtet.“ Afghaninnen würden dem WFP immer wieder sagen, wie wichtig dessen Hilfe sei. „In Afghanistan ist durch Krieg und Migration ein hoher Anteil an Haushaltsvorständen weiblich“, so Lee.

27 Prozent ihrer Mit­ar­bei­te­r*in­nen im Land seien Frauen. Sie seien auf allen Ebenen involviert und hätten Zugang zu allen 34 Provinzen. Details wollte Lee nicht nennen, verwies aber darauf, dass im Gesundheitsbereich Frauen noch arbeiten dürften und die Ernährungshilfe in diesen Bereich falle. „Es gibt derzeit mit den Taliban auf allen Ebenen Verhandlungen“, so Lee. Und da die Taliban darauf bestünden, dass ihre Verhandlungspartner auch entscheidungsbefugt seien, würden diese selbst mit ihr als Frau verhandeln.

„Würde man die Arbeit in Afghanistan beenden, ließe man viele Menschen im Stich“, sagt Stefan Recker, der das Büro von Caritas International in Kabul leitet, der taz. „Wir sehen ein Dilemma, in dem es nur schlechte Lösungen gibt.“ Denn so nötig es sei, die Hilfe angesichts der humanitären Not auszudehnen, „wäre es ein falsches Signal an die Taliban zu expandieren, wo sie jetzt Frauen das Arbeiten verbieten“. Hilfe sei bitter notwendig, „aber nicht um jeden Preis“.

Schätzungen der UN zufolge benötigen in Afghanistan mehr als 90 Prozent der 37 Millionen Menschen humanitäre Hilfe. Bis zur Machtübernahme der Taliban im August 2021 wurden 70 Prozent des Staatshaushaltes aus dem Ausland finanziert. Mit dem chaotischen Abzug internationaler Truppen und Entwicklungshelfer entfielen viele Jobs. Die Machtübernahme der Taliban löste einen Braindrain, Kapitalflucht und wirtschaftliches Chaos aus. Verschärft wird dies durch mehrjährige Dürren. Hunderttausende haben das Land schon verlassen, viele dürften noch folgen.

In den vergangenen eineinhalb Jahren hat sich die humanitäre Krise im Land verschärft, sagt Lee. Das Welternährungsprogamm habe laut Lee im letzten Jahr mit seiner Hilfe für 23 Millionen Menschen eine Hungersnot verhindern können, doch litten immer mehr Afghaninnen und Afghanen unter Ernährungsunsicherheit. Und jetzt habe die UN-Organisation eine Finanzierungslücke von 900 Millionen US-Dollar allein für die nächsten sechs Monate, so Lee. Das WFP musste bereits den Umfang der Rationen und ab März auch die Zahl der Empfänger und Empfängerinnen reduzieren. So wurden ab März nur noch 13 statt 23 Millionen Menschen vom WFP erreicht, im April waren es nur noch 9 Millionen und im Mai werden es laut Lee gar nur 5 Millionen sein.

Laut Recker sei die Not zum Beispiel in Kabul viel sichtbarer als früher. Es gebe viel mehr Bettler und Straßenkinder. Und jedes Viertel habe inzwischen eine Straßenecke, an der Tagelöhner mit Maurer-, Tischler- oder Malerwerkzeugen auf Arbeit warteten. Caritas International bekommt seine Afghanistan-Mittel vom Auswärtigen Amt, der UNO und der britischen Regierung. Die Arbeit der Hilfsorganisationen leide jedoch unter den internationalen Finanzsanktionen gegen das Taliban-Regime. Die Caritas greife deshalb manchmal auf das muslimische Hawala-System zurück. Bei dem sorgen persönliche Vertrauensbeziehungen für Bargeldtransfers, die verlässlich länder- wie kontinentübergreifend funktionieren. Die USA hatten nach 2001 versucht, das anonyme System außerhalb des Bankwesens international zu illegalisieren, da es zur Terrorfinanzierung missbraucht werden kann. „Bisher überlebt Afghanistan auch dank der Hilfe seiner großen Diaspora“, sagt Recker.

„Es besteht international Einigkeit, dass humanitäre Hilfe von Politik zu trennen sei“, behauptet Lee. Doch das ist die Theorie. Denn in der Praxis ist es zunehmend unbeliebt, dem von den frauenfeindlichen Taliban beherrschten Afghanistan zu helfen, erst recht angesichts eskalierender Krisen in anderen Ländern. Das bedeutet dann allerdings auch, dass afghanische Frauen damit doppelt bestraft sind: von den Taliban und von ausbleibender Hilfe.