Spitze Formen streben aufwärts

Zwischen virtueller Welt und Acrylfarbe: die Bilder von Shannon Finley im Mies van der Rohe Haus in Hohenschönhausen

Von Katrin Bettina Müller

Manchmal sieht man historische Anspielungen und Geschichte in neuen Kunstwerken. Ihr Schöpfer aber hatte eigentlich anderes im Sinn. Sind dann die eigenen Assoziationen falsch? Oder fügen sie dem Spiel der Farben und Formen einfach noch eine Lesart hinzu?

Anlass für diese Überlegung sind die sehr farbigen, scharfkantigen und geometrischen Formen in den Bildern des Malers Shannon Finley, die er unter dem Titel „Aftermathematics“ im Mies van der Rohe Haus in Weißensee ausstellt. In der Popmusik Bewanderten sagt der Ausstellungstitel, der ein Album von Bill Laswell und Grand Mixer DXT zitiert, womöglich, dass es hier um einen Remix von Formen geht. Der architektonische Rahmen der lichtdurchlässigen Räume in der Villa, Erbe der klassischen Moderne, aber legt vermeintlich eine Spur zu den kristallinen Formen, wie sie den Architekten Bruno Taut, den Bauhausmeister Lionel Feininger oder den expressionistischen Maler Hermann Finsterlin beschäftigten, alle Zeitgenossen von Mies van der Rohe.

Doch der 1974 in Kanada geborene Maler, seit 2006 mit Atelier in Berlin, wurde erst hier auf die Verwandtschaft zwischen seinen zersplitternden Formen, dynamischen Anordnungen und geometrischen Tänzen mit Strömungen in der Kunst der klassischen Moderne gestoßen. Für ihn kamen die ersten Impulsgeber aus der Popkultur und aus Computerspielen.

Seine Bilder entstehen in einem Wechselspiel zwischen der Planung am Computer und dem Malen auf Leinwand. Immer wieder fotografiert er Stadien des Bildes, testet virtuell aus, wie Veränderungen wirken, malt neue Schichten. Und weil er dies mit Acrylfarben macht, die teilweise durchlässig sind, erhalten die Bilder einen eigenartigen Effekt. Je nach Licht wirken sie, als wären sie aus Glas und das Licht schiene von hinten durch die Farben. Von der Seite betrachtet, sieht man, dass viele Schichten übereinanderliegen.

In „Freeside“ von 2023 ist das Bild von vertikalen und schrägen Bändern durchzogen, die sich überschneiden und an den Schnittstellen die Farbe wechseln. Es bilden sich Quadrate und Dreiecke, Kreise kommen hinzu. In „Torrent“ sind es spitz zulaufende, unregelmäßige Formen, mit bis zu sechs Ecken, die aufwärts streben und sich dabei zum Teil zu überholen scheinen. Ein älteres Bild sieht aus, als wären die symmetrischen Formen durch Faltungen entstanden, wo sich die Knicke als hellere oder dunkle Linien zwischen blauen Feldern abzeichnen: Aber auch hier hat Shannon Finley seine besondere Maltechnik genutzt.

In ihrer Entstehung verbinden sich in den Bildern also digitale Möglichkeiten mit handwerklichen Fähigkeiten. Der Maler hat sich auch mit grafischen Darstellungen in den Wissenschaften beschäftigt. Doch all das, was unter den Oberflächen pocht, vermittelt sich nicht unbedingt an den Betrachter. Für ihn bleibt es nur ein ästhetisches Spiel.

Shannon Finley, bis 25. Juni, im Mies van der Rohe Haus, Oberseestraße 60, 13053 Berlin