Übers Union-Gefühl „Fußball wie früher“: Spielstand weiterhin per Hand

Das Anzeigenhäuschen mit den Schiebetafeln im Stadion An der Alten Försterei genießt vereinsintern Denkmalschutz. Es ist ein Sinnbild für Tradition.

Götz Geserick tauscht bei jedem Tor die Tafel im Stadion An der Alten Försterei aus - analog, also per Hand, man kann den Mann in einem offenen Fenster sehen, neben ihm eine große Null - die Ziffer hängt an einem Haken

Traumjob!? Götz Geserick tauscht bei jedem Tor die Tafel im Stadion An der Alten Försterei aus Foto: Gunnar Leue

BERLIN taz | Der Fußballklub Union hat in den letzten Jahren einen Aufstieg erlebt, der durch seine Stetigkeit langsam eine neue Sphäre erreicht. Aus dem Wunder wird für einige Beobachter Gewohnheit. Das ist nicht angemessen, aber Erfolge haben eben Nebenwirkungen. Zu den schönen gehört, dass Union jetzt als Berlins größter Sportverein über 53.000 Mitglieder zählt. Etliche von ihnen werden kaum mehr die Zeit kennen, als der Klub noch als kleiner Stänkerer vom östlichen Standrand galt – gegen den Hauptstadtverein, formely known as Big-City-Klub. Mittlerweile hat sich der Wind gedreht, nicht Hertha BSC, sondern Union ist auf Kurs in die Big-Kohle-Liga.

Das Interesse an Union, national wie international, ist gewaltig. Man merkt es auch an den vielen Fremdsprachlern, die zum Gucken kommen. Holländer, Österreicher, Schweizerinnen, Schotten, Bayern. Oft treibt sie die Frage: Was ist das denn für ein Verein? Selbst im Stadion wundern sich manche noch. Da singen die Fans ständig. Da rufen sie zum Auswärtsblock „Wir sind eure Hauptstadt, ihr Bauern“, was sich die Bayern genauso anhören dürfen wie die Charlottenburger. Oder die Kölner, nachdem es aus ihrem Block zuletzt lauthals tönte: „Wir hassen Ostdeutschland“. Vielleicht dachten sie, sie wären in Dresden.

Aber gut, im Stadion sollte man nicht alle Worte auf die Goldwaage legen (bestimmte natürlich schon). Ein proppevolles Stadion, das besonders viele junge, gern angetrunkene Menschen mit aufgesetzter Vereinsbrille bevölkern, ist kein Safer Space für Dauersensible. Austeilen und Einstecken, so geht immer noch Livefußball. Auch deshalb zieht der ja so viele Leute an.

Gerade die Fans im Stadion An der Alten Försterei wollen nicht nur gute Fußballer sehen. Sie wollen ihren Klub als unerwarteten Eindringling in die starre Oben-unten-Welt des Fußballs feiern. Und sie wollen, wie die neugierigen Groundhopper, Fußball sehen, der ein bisschen wie früher ist. Auf dem Platz kämpferisch und schnörkellos, auf den Rängen retro heimelig: Gucken im Stehen, Bier trinken zu halbwegs günstigen Preisen, Beschallung zum Hinhören (New Order, Ärzte, Sporti).

„Professionelle Feuerwerkstechnik“

Und obendrauf eine Prise Ostcharme. Nicht im Musikprogramm vor dem Spiel, eher im Kommerzbereich. Auf den Werbebanden findet man das Konsum-Hotel Oberhof oder den Polenmarkt Hohenwutzen. Letzterer mit dem völlig ernst gemeinten, aber im Pyroverbots-Zusammenhang auch lustigen Angebotszusatz „Professionelle Feuerwerkstechnik“.

Am auffälligsten jedoch ist die Reklame für die Eberswalder Wurst, ein altes Ostprodukt, das nicht nur einen guten Ruf als Stadionbratwurst genießt. Es dürfte auch die vielleicht berühmteste Regionalostmarke der Welt sein, denn sie ist seit dem international beachteten Aufschwung des 1. FC Union medial omnipräsent.

Das liegt daran, dass ihr Logo und Claim „Richtig gut, die Wurst“ auf dem Dach eines Backsteinhäuschens prangt, direkt über der Spielstandanzeige. Von den Fernsehkameras wird es auch bei 0:0-Ständen gern anvisiert, weil die Anzeige so uralt ist, dass dafür das Wort analog schon zu neuzeitlich klingt. Eigentlich handelt es sich nur um zwei Ziffertafeln, die am Gemäuer in Schienen links und rechts der Fenster stecken. Darüber die Worte „1. FC Union“ sowie „Gast“.

Die Butze befindet sich genau in der Ecke zwischen Waldseite, der Ultra-Tribüne, und Gegengerade, der Hauptstehtribüne des Stadions. Wie ein steinernes Monument einer vergangenen Zeit steht sie mitten im wogenden, lauten Pulk der Fanmassen, aus dem, wie in allen anderen Stadien der Welt, jede Menge Handybildschirme hervorscheinen. Das bekannteste Stück Stadion An der Alten Försterei wirkt so einmalig in der digitalisierten Jetztzeit, dass es in keinem TV-Bericht über Union fehlt.

Das bekannteste Stück Stadion An der Alten Försterei wirkt so einmalig in der digitalisierten Jetztzeit, dass es in keinem TV-Bericht über Union fehlt

In der halben Welt ein Hit

Durch die Auslandsvermarktung der Bundesliga ist die Anzeigenbude aus Köpenick in der halben Welt zum Hit geworden. Überall wo Dokumentationen und Bilder über die Bundesliga laufen, sieht man, wie sich ein Mann durch das Fenster eines alten Häuschens beugt, um nach Toren eine Ziffertafel auszutauschen.

Ja, sagt Götz Geserick, der Anzeigenmann, das hätte er schon mitgekriegt. „Aus Vietnam und aus Ägypten haben mir schon Unioner geschrieben, dass sie mich da im Fernsehen gesehen haben.“ Geserick ist einer von zwei Tafelschiebern und derjenige, der am linken Fenster (aus Spielfeldsicht) für die Heimtor-Tafel zuständig ist. Vor Kurzem hat die Londoner Times einen Artikel über ihn geschrieben.

Vor Kurzem hat die Londoner Times einen Artikel über Götz Geserick geschrieben

Eigentlich mag er es nicht, wenn Union-Geschichte am Beispiel seiner Person vermittelt wird. Obwohl das in mehrfacher Hinsicht gut geht. Der gelernte Drucker ist seit 1978 Union-Mitglied, war 1981 Mitgründer des Unionfanliga-Teams VSG Wuhlheide 79 und kam 1985 auch beruflich als Platzwart zum Verein. In jener Zeit betrat er auch das erste Mal das Anzeigenhäuschen, das damals wohl kaum anders aussah als heute.

Das Kabuff wirkt drinnen noch stärker aus der Zeit gefallen als draußen. Auf den wenigen Quadratmetern Raumfläche gibt es einen ranzigen Sprelacarttisch, ein paar olle Stühle, einen alten Elektroheizkörper. Und: kein Klo – weshalb man sich das mit einem Bier zum Spiel gut überlegen muss. „Du kannst ja nicht während des Spiels zum Pinkeln rausrennen und dann fällt gerade ein Tor, das angezeigt werden muss.“

Ganz früher heißt Ostzeiten

Oder angezeigt und wieder revidiert werden muss. Seit auch in Köln in einem Kabuff Leute sitzen, die auf Monitore starren und Videobeweise ermitteln, werden ja öfter Tore nach gefühlt zehn Minuten wieder zurückgenommen.

Die weißen Tafeln mit den schwarzen Zahlen, die längst weit über Köpenick hinaus berühmt sind, lehnen in zwei Stapeln an der Wand. Sie sehen etwas abgenutzt aus. „Kann sein, dass die noch von ganz früher sind“, sagt Geserick. Ganz früher heißt Ostzeiten, als Union im Fahrstuhl zwischen Oberliga und Zweiter Liga pendelte und das Stadion kein Dach hatte. Bis auf die kleine Haupttribüne und das Anzeigenhäuschen.

An sein erstes Tor als Tafelschieber in den Achtzigern kann sich Geserick nicht erinnern. Dafür an die oft volle Hütte, wenn sie im Winter von mehreren Fans als wettergeschützter Ausguck genutzt wurde. Und weil sie auch noch als heimliches Getränkelager diente, hätten sich schon mal an die acht Langhaarige dort bei den Spielen gedrängt, so Geserick. Bis das der Sportstättenobermeister von Ostberlin mitbekam und meinte: So jeht’s ja nu nich, Leute. Saufen und jubeln könnt ihr auch woanders.

Nach der Wende war es mit der Gemütlichkeit erst mal vorbei. Wie alle musste Götz Geserick gucken, wie es überhaupt weitergehen könnte. Immerhin fiel er als Angestellter des Stadtbezirks nicht in die Arbeitslosigkeit. Damit ging es ihm allemal besser als dem Verein, der ziemlich durch die Neunziger schlingerte. Die Anzeigetafel blieb stabil. Für eine elektronische Anlage fehlte ohnehin das Geld.

Dieses Union-Ding hat ihn immer gereizt

Durch eine Rettungsaktion für Union kam Götz Geserick noch zu einem anderen Nebenjob. Zwecks finanzieller Entlastung des Vereins wurde die Produktion des Stadionhefts von einer teuren Agentur abgezogen und in die Hände von Unionfans gelegt. Auch bei diesem Freiwilligenkollektiv von Fans, die sich als „PROGRAMMierer“ ehrenamtlich um die Erstellung des Hefts kümmern, ist Götz Geserick von Anfang an dabei. Selbermachen, statt rumjammern, dieses Union-Ding hat ihn immer gereizt.

Dass der heute 60-Jährige irgendwann wieder im Anzeigenhäuschen landete, geschah eher durch Zufall und fast zeitgleich mit dem Bundesligaaufstieg. Das erste Spiel gegen RB Leipzig war noch bitter: 0:4 gegen die Dosen. Das zweite gegen Dortmund, ein 3:1, brachte den Wahnsinn in Gang. Bis zum abrupten Stopp durch Corona. „Bei den Geisterspielen konnte ich zwar im Stadion sein, die Tore mussten ja angezeigt werden, aber das war schon ziemlich bizarr“, sagt Geserick.

Danach wurde es wieder positiv irre, weil sich Union gleich zwei Mal in Folge fürs das internationale Geschäft qualifizierte. Götz Geserick, der eiserne Fan, reiste zu allen Auswärtsspielen. Bei den Europa-League-Heimspielen in dieser Saison stand er im Anzeigenhäuschen. Am schönsten hat ihn das Spiel gegen Ajax, den Renommierklub aus Amsterdam, gefordert: Gleich Tafel 1, 2 und 3 in die Schienen auf der Union-Seite schieben zu können, unglaublich.

In solchen Momenten steht er am offenen Fenster, umtost von Fangesängen und natürlich „Eisern! … Union!“, dem ikonischen Wechselgesang zwischen Waldseite und Gegengerade. Es fühlt sich an wie beim Rockkonzert in der ersten Reihe, nur dass er auch noch in einer Art Loge mittendrin steht.

Götz Geserick sieht seine Rolle als Tafelschieber auch als Sinnbild für das Analoge in der schnelllebigen Digitalwelt. „Es verkörpert schon eine gewisse Symbolik. Für das Stadion, für Union, finde ich. Während drum herum vieles neu und anders wird, manchmal viel schneller und in eine Richtung, die man nicht unbedingt gutheißt, gibt’s mittendrin aber immer noch etwas, was bleibt. Ein bisschen Beständigkeit, wenn die Modernisierungsspirale sich mal wieder besonders schnell dreht.“

Und wenn das neue Stadion An der Alten Försterei bald wachsen werde, dann um das kleine Anzeigenhäuschen herum. „Auch das zeigt, dass der Verein bestimmte Traditionen und Werte achtet, die uns allen bei Union immer wichtig waren und die bewahrt werden sollen“, sagt Geserick. Ob er selbst dann noch als Tafelschieber in der Loge steht, die besser ist als jeder VIP-Ausguck auf der Tribüne gegenüber, ist Götz Geserick ziemlich egal. Sonst geht er eben wieder auf den Platz in der Menge – direkt neben dem Häuschen, wo er früher schon stand.

Transparenzhinweis: Der Autor ist selbst Schreiber der Seite „Sound des Fußballs“ im Stadionheft

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