piwik no script img

das wird„Mit einer Pistole in Griffweite geschrieben“

Übersetzerin Nadine Püschel stellt in Hamburg den wiederentdeckten Exilroman „Planet ohne Visum“ und seinen Autor Jean Malaquais vor

Interview Frauke Hamann

taz: Frau Püschel, wie haben Sie Malaquais’ Roman „Planet ohne Visum“ entdeckt?

Nadine Püschel: Ich war 2011 einige Wochen in Marseille und sah „Planète sans visa“ in einem Buchladen. Ich las den Roman der Atmosphäre wegen, war gleich begeistert – und konnte nicht glauben, dass es keine deutsche Übersetzung gab.

Wie sind Sie bei der Edition Nautilus gelandet, deren Gründer-Paar aus dem anarchistischen Milieu stammt?

Ich habe mich gefragt: In welchem Verlag würde sich Jean Malaquais zu Hause fühlen? Das Vertrauen des Verlags war sofort da. Aber die Übersetzung eines fast 700-seitigen Romans finanziell zu stemmen, gelang dann erst durch „Neustart Kultur“, den Förderfonds nach der Corona-Pandemie. Aufgrund des deutschen Erfolgs wird es eine französische Nachauflage geben! Ist das nicht ein Glücksfall?

Malaquais habe stets mit einer Pistole in Griffweite geschrieben, steht in Ihrem Nachwort. Was ist das für ein Autor?

1908 in Warschau geboren, hat er nicht nur viel erlebt: Er kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg, war Minenarbeiter, französischer Soldat und floh vor den Nazis nach Mexiko. Er hat auch viel gelesen. Das ex­treme 20. Jahrhundert hat ihn geprägt und zeitlebens beschäftigt. Zudem war Französisch nicht seine Muttersprache. Auch deshalb hat er den Roman bis zu seinem Tod 1998 immer wieder überarbeitet.

Malaquais war Sekretär von André Gide. Den Literaturnobelpreisträger porträtiert er so: „Man hat das Gefühl, den Gegenstand seiner Ausführung in Händen zu halten und dessen Beschaffenheit zu spüren.“

Foto: Ebba Drolshagen

Nadine Püschel

*1979, hat Literatur­übersetzen in Düsseldorf sowie Lebensart in Lyon, London und Istanbul studiert .Lebt und arbeitet in Berlin.

Das ist genau Malaquais’ poetologisches Programm: die Durchdringung der Welt mit den Mitteln des Erzählens.

Für die Figuren in „Planet ohne Visum“ geht es um alles, Tod oder Freiheit. Nichts scheint sicher, außer der Gefahr.

Deshalb gibt es so unterschiedliche Szenen: das Dominikanerkloster, das Kinder versteckt hält, die Hausdurchsuchung „auf der Jagd nach Judenfleisch“, die Verzweifelte, die vor der Verhaftung in den Tod springt, unversöhnlich endende politische Gespräche, die Demütigungen im Internierungslager, die Flucht zu Fuß über die Pyrenäen. Malaquais fächert das menschliche Verhalten großartig auf, in seiner Bandbreite wie in seinen Ambivalenzen.

Wie viele Figuren hat der Roman überhaupt?

Es sind wohl mehr als 50. Deshalb habe ich für jedes der 23 Kapitel ein Logbuch angelegt, um in den Ton einer Figur hineinzukommen, deren jeweiligen Ton zu treffen.

Lesung und Gespräch mit Nadine Püschel, Doerte Bischoff (Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für Deutsche Exilliteratur) und Verlegerin Katharina Picandet: Mi, 19. 4., 19 Uhr, Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek. Eintritt frei.

Jean Mala­quais, „Planet ohne Visum“. Aus dem Französischen von Nadine Püschel. Edition Nautilus, Hamburg 2022, 664 S, 32 Euro; E-Book 25,99 Euro

Marseille war der letzte offene Hafen Europas, nachdem die Nationalsozialisten 1940 den Norden Frankreichs eingenommen hatten. Bis November 1942 strandeten in Marseille Menschen aus allen erdenklichen Ländern. Sie hofften auf die Flucht, egal wohin.

Jede Romanfigur hat ihren Charakter, ihr Wissen, ihre Kraft – mit anderen Ausdrucksweisen als heute. Das Zeitkolorit fange ich ein durch Worte wie „Schutzmann“ oder „Trutsche“.

Malaquais war nah dran, das Episodische, die raschen Szenenwechsel, die überbordende Handlung lassen die Unruhe angesichts der Ausnahmesituation spüren.

Ja, Malaquais gibt all den Menschen damals in Marseille eine Stimme.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen