Bauen in der großen Nische

Der Architekt Liu Yichun und sein Büro Atelier Deshaus sind auf den Umbau alter Industrieanlagen in China spezialisiert. Die Galerie Aedes stellt einige Projekte vor

Das Long Museum beeindruckt mit der Höhe der Räume Foto: Su Shengliang

Von Tom Mustroph

Die Aedes Architekturgalerie stellt Konversionsprojekte des Shanghaier Büros Atelier Deshaus vor. Der Umbau von Industrie- und Speicheranlagen zu Kunstzentren ist Zeichen für einen Transformationsprozess in der chinesischen Gesellschaft. Zwar industrialisiert die kommende Weltmacht massiv. Sie deindustrialisiert aber auch und sorgt so für eine Nische für kleinere selbstständige Büros.

Eine geschwungene blaue Linie auf dem Boden des Ausstellungsraums sticht sofort ins Auge. Sie stellt den Verlauf des Huangpu-Flusses in Shanghai nach. Auf beiden Seiten des Flusses liegen Projekte von Atelier Deshaus – im realen Shanghai wie hier im Ausstellungsraum. Das vom Architekten Liu Yichun gegründete Büro hat sich auf Umbauten von alten Industrieanlagen spezialisiert. Es begann, so erzählt Liu Yichun bei seinem Berlinbesuch selbst, mit dem Long Museum. Das war ein alter Kohlehafen, der Schlund, durch den der Energieträger Kohle in die benachbarten Industriegebiete auf beiden Seiten des Flusses gelangte. Das Problem war, das auf dem Gelände bereits eine zweistöckige Tiefgarage gebaut war, die aber weitgehend ungenutzt blieb. Auf dessen Grundriss setzte Atelier Deshaus nun den neuen Baukörper. Als „Gebäude, das sich nach oben entfaltet, das in die Höhe strebt“, beschreibt Liu Yichan selbst seinen Ansatz.

Aus T-Elementen, die vor Ort gegossen wurden und die wie gigantische Schirme wirken, baute er das Haus. Mit ihrer Höhe von etwa zwölf Metern schaffen sie gewaltige Räume, in denen die zeitgenössische Kunst, die dort ausgestellt wird, besonders gut zur Geltung kommt. Weil das Zusammentreffen von Vertikale und Horizontale abgerundet ist, ergibt sich ein sakraler Effekt, vergleichbar mit romanischen und gotischen Kirchenbauten. Und weil die T-Elemente unregelmäßig versetzt angeordnet sind, wirken sie zugleich wie die Begrenzungen einer unendlichen Woge, die durch die Räume schwappt. Wer sich, wie in Berlin, mit einer „Kunstscheune“, dem geplanten Museum der Moderne, zufrieden geben muss, kann da schon neidisch gen Osten schauen.

Nach dem Erfolg des Long Museum wurde das Atelier Deshaus mit weiteren Umbauten von ehemaligen Industrieanlagen links und rechts des Huangpo betraut. Darunter befinden sich die 48m hohen Silos eines früheren Getreide-Speichers. Sie wurden durch bauliche Eingriffe wie etwa eine um den Baukörper herumlaufende Rolltreppe für Ausstellungen erschlossen.

Als besonderen chinesischen Weg bei der Umgestaltung von Industriebauten sieht Liu Yichun es an, alte Traditionen wie die von chinesischen Gartenanlagen aufzunehmen. Sehr deutlich ist dies bei der Riverside Passage, einer früheren Kohleentladeplattform. Die etwa 90m lange Mauer, die die Plattform begrenzte, wurde durch ein Dach ergänzt. Von diesem derart geschützten Raum kann der Blick auf der einen Seite über den Fluss schweifen und auf der anderen Seite über die wilde Vegetation, die sich in den letzten Jahrzehnten auf dem verlassenen Areal ausgebreitet hat. Es handelt sich um eine postindustrielle Gartenlandschaft, die jetzt Raum für Kontemplation bietet.

Auch Projekte außerhalb Shanghais werden vorgestellt, etwa ein neues Meditations- und Kulturzentrum in den Bergen nahe Pekings mit Blick auf die Chinesische Mauer.

Atelier Deshaus zeichnet sich auch durch den Ansatz aus, Architekten und Bauingenieure unter einem Dach zusammenzuführen. „So sind die Ingenieure vom frühesten Entwicklungsstadium an dabei, und sie sind deshalb auch viel motivierter, originellere Lösungen gemeinsam mit den Architekten zu entwickeln“, erläutert Liu. Bauingenieure sind in China meist in großen staatlichen Betrieben tätig und tendieren nach eher schematischen Lösungen, war seine Erfahrung.

Die Nische bei der Konversion von Industriebauten droht in Zukunft allerdings umkämpfter zu werden. Staatliche Auftraggeber werden vermehrt dazu angehalten, staatliche Planungsbüros – anstelle von freien Büros wie Atelier Deshaus – zu engagieren, hat der Architekturhistoriker und Kurator dieser Ausstellung, Eduard Kögel, erfahren.

Gut ist der Ansatz, Architekten und Bauingenieure zusammenzuführen

Die Ausstellung bei Aedes schließt jetzt einen Kreis. Bei der ersten Präsentation freier chinesischer Büros im Jahr 2001 bei Aedes war Architekt Liu noch als Besucher dabei, der auch einen Beitrag in chinesischen Medien darüber schrieb. Zwei Jahrzehnte später stellt er in einer Einzelpräsentation eigene Projekte vor.

Die Ausstellung „Common Landscape. Re-Cultivating Industrial Sites“ gewährt einen Blick auf China abseits der Schlagzeilen über gigantische Industrieprojekte, gigantische Ausbeutung und gigantische Repression. Lius Bauten dienen auch, wie bei einigen Videos in der Ausstellung deutlich wird, als Kulissen für Spontandrehs von Shanghais Jugend für Clips in den sozialen Medien. Geglückte Konversion also.

„Common Landscapes“, bis 17. Mai, Galerie Aedes