berliner szenen
: Kleine Brüder erziehen

Immer wieder frage ich mich, wie viel von den „woken“ Debatten überhaupt ankommt bei der Mehrheitsgesellschaft. Wie viel die mit Begriffen wie „toxische Männlichkeit“, „Body Positivity“ oder „Flinta*“ anfangen kann.

Wäre ich nicht mittendrin, würde nicht selbst diese Begriffe im Arbeitskontext und darüber hinaus ständig nutzen, ich weiß nicht, inwieweit mir die Konzepte dahinter etwas sagen würden.

Dass aber gerade Jugendliche heute ein viel progressiveres Vokabular kennen und wie selbstverständlich nutzen, dessen durfte ich unlängst in der U7 Richtung Neukölln Zeugin werden. Hinter mir stand ein schätzungsweise 15-jähriges Mädchen mit Kopftuch, neben ihr ihr schätzungsweise 12-jähriger Bruder. Wie in so einer alterstypischen Konstellation unter Geschwistern üblich, kabbelten sich die beiden.

Der Junge nannte seine vermeintliche Schwester wiederholt „fett“, worauf diese ganz unaufgeregt entgegnete: „Du betreibst gerade Bodyshaming.“

Chapeau!

Ich hätte damals in meiner jugendlichen Unsicherheit vermutlich zickig reagiert und mich mental schon mal auf Diät gesetzt.

Das Mädchen aber setzte noch einen drauf: „Würde ich das jetzt auf TikTok posten“, sagte sie, „würdest du richtig viel Hate abgekommen.“ Das saß. Vorm Shaming durchs Internet schien der Junge ernsthaft Respekt zu haben und wurde mucksmäuschenstill.

Wie gern hätte ich diese Chuzpe als Teenager gehabt, das hätte mir viel Leid in jungen Jahren erspart.

Umso glücklicher macht es mich in der Gegenwart zu sehen, dass junge Frauen sie heute haben. Das gibt mir Hoffnung auf eine wertfreiere und gerechtere Welt. Auf eine Welt, in der sich Fe­mi­nis­t*in­nen nicht nur den Mund fusselig reden, sondern wirklich etwas bewegen.

Sophia Zessnik