Die Wahrheit: Wem die Stunde schlägt
Und wieder eine Zeitenwende: Noch einmal alles, aber auch alles zur allfrühjährlichen Zeitumstellung am nächsten Sonntag.
Montagmorgen in der Redaktion eines Fernsehsenders. Die Chefredakteurin steht am bodentiefen Fenster, schaut hinaus, seufzt, dreht sich zum Team um: „Passt auf! Ich stell mir das so vor: Im Studio. Dort steht der Moderator. Oder die Moderatorin. Oder ein Moderator und eine Moderatorin. Gleich neben unserem Counter. Im Hintergrund sieht man das Bild einer Uhr. Ein wenig verschwommen und unscharf, so als würden die Zeiger sich ganz schnell bewegen. Vor. Oder zurück.“
Ja, es ist wieder so weit. Zweimal im Jahr werden die Deutschen Zeugen eines seltsamen Rituals, das sich am letzten Sonntag im März und am letzten Sonntag im Oktober stets aufs Neue abspielt: In Europa werden die Uhren umgestellt. Nein, das ist noch nicht das seltsame Ritual. Das seltsame Ritual ist, dass das Fernsehen darüber berichtet.
„Und die Moderatoren, die sagen“, fährt die Chefredakteurin fort: „Heute Nacht um zwei Uhr werden die Uhren wieder umgestellt. Aber wissen Sie denn, ob vor oder zurück?'“
Jemand meldet sich. Die Chefredakteurin nickt ihm zu. „Ja, also“, sagt der Mitarbeiter, „im Ausland, also im ausländischen Fernsehen, da sitzt meist nur der Nachrichtensprecher und sagt: Heute Nacht werden wieder die Uhren umgestellt, um eine Stunde. Und fertig.“
Spannung beim Weltuntergang
Die Chefredakteurin starrt ihn an. „Und fertig? – Wir brauchen Spannung, Suspense, Terror! Krieg! Revolution! Klimadingens! Weltuntergang! Die Zuschauer dürfen nicht umschalten. Wir müssen eine Straßenumfrage machen! Wer kümmert sich?“
Alle schauen weg, auf Uhren, auf die Notizen vor ihnen, in Kaffeetassen. „Da, Sie, du!“, ruft die Chefredakteurin. „Schnapp dir eine Kamera und dann los!“
„Wir haben eine Straßenumfrage gemacht“, sagt später der Moderator oder die Moderatorin. Und dann sieht man die Straßenumfrage. Aufgenommen in der Fußgängerzone einer mittelgroßen Kleinstadt, dort wo die Menschen einen leichten, gern auch lustigen Akzent haben. Im Hintergrund Filialketten noch und nöcher, im Vordergrund die Frage: „Werden die Uhren heute Nacht vor- oder zurückgestellt?“ Dann werden die zusammengeschnittenen Antworten präsentiert. „Vor, zurück, vor, zurück, zurück, vor“, sagen die Menschen in der Straßenumfrage und lachen verlegen, weil sie es nicht wissen. Oder weil sie noch nie im Fernsehen waren.
„Und nach der Straßenumfrage dann zurück ins Studio“, sagt die Chefredakteurin am bodentiefen Fenster. „Danach sehen wir wieder die Moderation im Studio und wenn es noch einen Moderator gibt, der den Sport, das Wetter oder die Lottozahlen ansagt, dann wird der auch noch mal gefragt: ‚Weißt du denn, ob die Uhr heute Nacht vor- oder zurückgestellt wird?‘ Und natürlich weiß der Kollege das und sagt es auch, dass er es weiß. Und dann wird das große Rätsel endlich aufgelöst. ‚Richtig‘, heißt es dann noch im Studio, ‚heute Nacht werden die Uhren vorgestellt.‘ Oder zurück.“
Die Chefredakteurin ist ganz aus dem Häuschen: „Wenn die Uhr zurückgestellt wird, lacht die Studiomoderation und sagt, dass uns eine Stunde geschenkt wird. Muss aber die Uhr vorgestellt werden, heißt es händeringend, dass uns eine Stunde gestohlen wird.“
Immer dieselben schiefen Bilder
Alle Halbjahre wieder sitzen also Redaktionen zu diesem Thema zusammen, gibt es Straßenumfragen, werden dieselben schiefen Bilder aufgefahren wie seit Sommerzeiteinführung im Jahre 1980. Seit 43 Jahren: 86-mal 50 Sendungen, denn das läuft im Morgen-, im Frühstücks-, im Mittagsmagazin, in den Boulevardsendungen, im Abend- und im Nachtmagazin.
Und zu runden Jubiläen der Zeitumstellung gibt es einen Uhrenladenbesuch: „Müssen Sie wirklich alle Uhren mit der Hand stellen? Macht das nicht viel Arbeit?“ Oder Besuch beim Pfarrer: „Wie stellt man so eine große Kirchturmuhr eigentlich? Mit der Hand? Machen Sie das selbst? Haben Sie Höhenangst?“ Oder beim Arzt: „Wie gesundheitsschädlich ist die Zeitumstellung eigentlich wirklich? Geht der Biorhythmus kaputt?“
Alle halbe Jahre wieder steht die Chefredakteurin am bodentiefen Fenster. Doch vielleicht ist dieses Mal im März das letzte Mal. Denn die Zeitumstellung wird abgeschafft. Bald. Hat das EU-Parlament vor vielen Jahren beschlossen. Jetzt müssen sich nur noch die Länder einig sein. Aber auch darüber berichten die Sender. Haben wir dann immer Sommerzeit? Wo es doch schon so heiß ist? Oder für immer Winterzeit? Hilft das gegen den Klimawandel? Müssen wir dann alle sterben? Und worüber wird berichtet, wenn es keine Zeitumstellung mehr gibt? Werden dann Journalisten, Uhrumsteller und Ärzte arbeitslos?
Nach der Redaktionssitzung trifft das Team ein anderes Team in der Kantine: „Und, was macht ihr?“ – „Straßenumfrage.“ – „Mahlzeit.“ – „Wird jetzt eigentlich vor oder zurückgestellt?“ – „Vor.“ – „Nee, zurück.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge