: Piraten-Demokratie
PIRATEN I Sie liebten die Freiheit genauso wie ein Glas guten karibischen Rum – echte Piraten. Mit Holzbeinen, Augenklappen und verfilzten Bärten enterten sie sich kreuz und quer durch die sieben Weltmeere, vergruben Gold und Juwelen auf einsamen Insel, die man nur noch mit vergilbten Schatzkarten wiederfand … war es so? Nicht ganz, sagt Michael Kempe, Piratenforscher, und räumt mit einigen Klischees auf. Immerhin: Papageien gab es an Bord tatsächlich
Anna Hunger im Gespräch mit Michael Kempe
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, einen Piratenschatz zu finden?
Kommt ganz drauf an, was man unter einem Piratenschatz versteht?
Eine Kiste voll Gold.
Eher unwahrscheinlich. Es ist ja schon schwer, ein Piratenschiff zu finden, sehr schwer sogar. Zudem war die Beute ja meist vergänglich und musste schnell verkauft werden, um etwas damit zu verdienen. Und das Vergraben wäre da eher kontraproduktiv gewesen. Insofern wird es schwer mit dem Schatz.
Braucht man als Pirat ein Holzbein?
Es konnte natürlich immer mal passieren, das einer im Gefecht ein Bein verlor. Also gab es bestimmt Seeräuber mit Holzbein, aber die haben eher als Köche gearbeitet.
Und einen Papagei?
Ja, Papageien sind als Piraten-Attribute gar nicht so unrealistisch. Aber sie saßen nicht auf der Schulter, schon gar nicht im Gefecht. Exotische Tiere, auch Affen, waren begehrt als Handelsgut. Die konnte man ganz gut verkaufen, wenn man sonst keine Beute gemacht hatte.
Ein Zitat aus dem Wiki der Piratenpartei zur Namensfindung: „Der Begriff Pirat ist längst nicht nur mit Gewalt und Räuberei verbunden, sondern auch mit Heldenmut, Freiheit und ein bisschen Aufmüpfigkeit. Es denkt doch auch bei Rittern keiner mehr an Schlachtfelder, Gemetzel, Feudalismus und Leibeigenschaft, sondern an Edelmut, Höflichkeit und Aufrichtigkeit.“
Das ist natürlich viel Idealisierung dabei. Es gibt immer ein Moment des Widerstands im Piratentum, der Devianz, des Aussteigens, ein bisschen wie die Gallier bei Asterix. Da steckt schon ein wahrer Kern drin, aber Piratentum ist heute natürlich stark mythologisiert und heroisiert. Man darf auch die Brutalität der Piraten nicht vergessen. Eine Piratenbande war sich nicht zu schade, ein armseliges Fischerboot zu überfallen. Sie haben sich ja auch als Sklavenhändler betätigt.
Also waren Piraten fiese Rüpel?
Nicht nur, es gab auch Gentleman-Piraten. Aber Gewalt ruft natürlich eher die schlechten Eigenschaften der Menschen hervor. Gleichzeitig musste die Besatzung diszipliniert und organisiert sein.
Was war denn der historische Pirat für ein Mensch?
„Den Piraten“ gab es sowieso nicht. Die Piraten, mit denen sich Cäsar in der Antike rumgeschlagen hat, waren ganz andere als die Vitalienbrüder um Störtebeker und die ganz anders als die Piraten in der Karibik, Blackbeard und Captain Kidd. Und man wurde ja als Pirat nicht geboren. Die Bukanier zum Beispiel waren Migranten, europäische Auswanderer, die im 17. und 18. Jahrhundert aus Europa nach Westindien gefahren sind. Aus Gründen der Armut, als politisch und religiös Verfolgte, nach dem englischen Bürgerkrieg zum Beispiel. Der Einstieg in die Piraterie hatte unterschiedliche Gründe: Armut, Verzweiflung, Abenteuerlust, Geldgier oder auch, um aus gesellschaftlichen Strukturen auszusteigen. Und: Piraterie ist immer Zuschreibungssache, um einen Gegner zu stigmatisieren, nicht als gleichwertigen Kombattanten zu akzeptieren, sondern als Verbrecher zu kennzeichnen. Oder eben als einen Robin Hood, je nachdem.
Wie bei der Piratenpartei, die behaupten von sich auch, sie haben den Namen nur übernommen.
Ein sehr guter Trick, eine negative Fremdbeschreibung in eine positive Selbstbeschreibung umzumünzen. Das haben mit Sicherheit einige Piraten auch selbst gemacht. Der Name bietet viele Möglichkeiten, gerade wenn man die Dinge ein bisschen provokant umdreht, in dem Begriff steckt einfach viel drin. Man kann im negativen Sinne Hedgefonds-Spekulanten als die eigentlichen Piraten bezeichnen. Im positiven Sinne die, die dem Staat ein Schnippchen schlagen. Das Wort Piraten hat immer auch ein zwinkerndes Auge. Und für eine politische Partei ist es natürlich auch positiv, sich mit diesem Begriff zu bezeichnen, weil er viel breiter ist als beispielsweise „Die Grünen“.
Wie demokratisch waren Piraten?
Das ist auch so eine Sache. Auf der einen Seite bestand wohl die Möglichkeit, den Kapitän abzuwählen, was revolutionär war gegenüber den streng hierarchischen, absolutistischen Gesellschaftsstrukturen dieser Zeit. Die Frage ist aber, wie das praktiziert wurde. Diese Gesetze dienten nicht dazu, eine freiheitliche demokratische Verfassung zu erlassen, sondern eher der Disziplin an Bord.
Die Piraten sollen ein ausgeprägtes Sozialwesen gehabt haben. 100 Piaster für einen verlorenen Finger, 100 Piaster für ein abgeschossenes Ohr …
Das ist auch mit großer Vorsicht zu genießen. Es gibt die Überlieferung der Piratengesetze. Und es gibt reißerische historische Artikel, die an ein aufklärerisches bürgerliches Publikum gerichtet waren, das sehr fasziniert war von der Vorstellung, dass selbst Verbrecher Gesetze haben und so was wie eine Sozial- und Invalidenversicherung, die man damals in der Gesellschaft nicht kannte. Aber es kann durchaus eine Umlage von Beutegeld für Versehrte gegeben haben.
Eben doch ein bisschen Robin Hood? Sich etwas holen und untereinander verteilen?
Holen sehr gerne, das Verteilen war eine andere Geschichte. Man hat zwar die Reichen beklaut, aber auch die Armen, wenn grade keine Reichen da waren. Aber die Piraten haben natürlich auch mit Siedlern kooperiert; sie konnten ja nur existieren, indem sie ihre Beute wieder einspeisten in den regulären Wirtschaftskreislauf. Das war ein Unterlaufen der protektionistischen Monopolwirtschaft. So haben die Piraten der frühen Neuzeit Wirtschaftsfreiheit indirekt mit hervorgebracht. Man kann hier also gewisse Parallelen ziehen zu den politischen Piraten, die Informationsfreiheit fordern. Aber den historischen Piraten ein ausgeprägtes Sozialwesen zu unterstellen wäre sicherlich falsch.
Was haben historische Piraten und die Piratenpartei noch so gemeinsam?
Das Anarchische, Wilde, das noch nicht so ganz Zielgerichtete. In einer Piratenbande haben sich ganz unterschiedliche Personen versammelt. Politisch Interessierte, solche, die aus Not in die Bande gefunden haben, andere aus Abenteuerlust, um reich zu werden oder einfach aus Spaß am Entern. Die Piratenpartei ist auch ein wilder, zusammengewürfelter Haufen, bei dem noch nicht so ganz erkennbar ist, wo er eigentlich hinwill. Es steckt auf jeden Fall viel politisches Potenzial dahinter. Und einer demokratischen Gesellschaft tut das eigentlich ganz gut, wenn es auch aus der Gesellschaft raus neue politische Strömungen gibt. Eine weitere Gemeinsamkeit könnte die räumliche Unfassbarkeit sein. Historische Piraten hatten theoretisch die Möglichkeit, alle Völker auf allen sieben Weltmeeren zu überfallen. Sie sind aus dem Nichts aufgetaucht, aus dem Nebel, dem Morgengrauen, hinter einem Felsvorsprung und dann wieder verschwunden. Und diese räumliche Unfassbarkeit gibt es auch im virtuellen, weltweiten Raum. Aber das Leben eines Parteipiraten ist natürlich deutlich weniger risikobehaftet. Früher musste man seemännisch was draufhaben, hat sein Leben riskiert. Heute meldet man sich auf Facebook an.
Bei den Parteipiraten gibt es kaum Frauen. Ist Piraterie Männersache?
Ja, grundsätzlich schon. Da gibt es die Geschichte von Anne Bonny und Mary Read, die sich nach der Verkündigung ihres Todesurteils als Frauen geoutet haben – und als Schwangere. Daraufhin wurde das Todesurteil ausgesetzt. Das ist natürlich eine Story und mit Sicherheit, wenn überhaupt, ein singuläres Ereignis. Frauen konnten nicht Mitglied einer Piratenbande werden. Frauen an Bord brachten Unglück, das ging gar nicht. Bei Blackbeard gab es das Gesetz, wer Frauen mit an Bord bringt, wird zum Tode verurteilt.
Es hatte wohl auch jeder Pirat das Recht auf genug Alkohol …
Das ist recht realistisch, ja. Alkohol war immer dabei auf See, war länger haltbar als Wasser, das schneller vergammelt ist.
Ne Buddel voll Rum?
Genau. Rum war ein wichtiges Exportgut, das man erbeutet hat. Piraten raubten nicht ständig Gold, Silber oder teure Seide, sondern eher Baumwolle, Waffen, Takelagen, was man so brauchte, und eben auch Rum.
Als Pirat sollte man also trinkfest sein?
Feste feiern, das mussten die Piraten mit Sicherheit können. Piraten hatten sehr viel Humor, der war mindestens so schwarz wie die Flagge. Und mit schwarzem Humor und Trinkfestigkeit kommt man mit Sicherheit besser durchs Leben als ohne.
Dr. Michael Kempe leitet die Leibniz-Forschungsstelle Hannover und ist Piratenforscher. Im Campus Verlag erschien 2010 sein Buch „Fluch der Weltmeere. Piraterie, Völkerrecht und internationale Beziehungen 1500–1900“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen