Küstenschutz mit Salzwiesen: Gegen die Flut wächst ein Kraut
Der Meeresspiegel steigt und damit auch das Risiko für Sturmfluten. Auf Spiekeroog untersuchen Forschende, wie Salzwiesen Küsten schützen können.
Seit einem Jahr fährt sie jeden Monat für vier Tage nach Spiekeroog, um Daten für ihre Promotion an der Universität Braunschweig zu sammeln. Die 29-jährige Umweltingenieurin erforscht, wie Salzwiesen, eine natürliche Landschaft zwischen Meer und Land, dabei helfen können, die Küsten trotz steigendem Meeresspiegel zu schützen.
In dem Projekt „Gute Küste Niedersachsen“ untersuchen Forscher*innen, wie natürliche Ökosysteme in den Küstenschutz einbezogen werden können. Denn im Gegensatz zu klassischen Küstenschutzbauten wie Deichen oder Hochwasserschutzmauern schützen Salzwiesen nicht nur die Küste auf natürliche Weise, sondern das Klima gleich mit.
Keimer ist vorbereitet für die grauen Novembertage auf der Insel. Sie trägt festes Schuhwerk und einen Anorak mit neonoranger Kapuze. Ihre Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Auf dem Weg von der Fähre ins Nationalparkhaus Wittenbülten, wo die Forscher*innen schlafen und das Labor nutzen können, zeigt sich die Insel von ihrer schönsten Seite: Links fällt der Blick auf sandige Dünen, rechts rauscht am Horizont die Nordsee. Eine Landschaft, die zunehmend von der Klimakrise bedroht ist.
Küstenregionen in der Klimakrise
Noch liegt Spiekeroog drei Meter über dem Meeresspiegel. Aber der steigt – im letzten Jahrhundert um knappe 20 Zentimeter. Der Weltklimarat geht davon aus, dass sich der Anstieg in Zukunft beschleunigen wird. Hauptgründe für den Anstieg sind die schmelzenden Eismassen in Grönland und der Antarktis. Außerdem erwärmt sich das Wasser in den Ozeanen und dehnt sich dadurch aus. Selbst wenn Treibhausgasemissionen gebremst werden, ist mit einem Anstieg von bis zu 90 Zentimetern bis zum Jahr 2150 zu rechnen.
Küstenregionen weltweit haben dadurch zunehmend mit großen Herausforderungen zu kämpfen. So auch die ostfriesischen Inseln, zu denen Spiekeroog gehört. Durch die höheren Wasserstände und stärkere Wellenenergie frisst sich das Meer immer weiter ins Land. Sturmfluten werden stärker und häufiger. Salzwasser dringt ins Grundwasser ein und gefährdet dadurch die Trinkwasserversorgung und landwirtschaftliche Nutzung der Regionen.
Aktuelle Schutzmaßnahmen wie Deiche und Mauern könnten zukünftig nicht mehr ausreichend Schutz bieten. Sie zu sanieren und an die steigenden Wasserstände anzupassen, ist sehr kostspielig: Über 60 Millionen Euro stellte das niedersächsische Umweltministerium 2020 für Investitionen in den Küstenschutz bereit, beispielsweise um die Deiche sicherer zu machen.
Hier kann die krautige Landschaft zwischen Meer und Land, die Kara Keimer untersucht, helfen. Sie dient als Pufferzone zwischen Meer und Deich. Wellen werden gebremst und verlieren dadurch an Energie. Folglich werden die Wellen kleiner und Deiche müssen weniger hoch gebaut werden. Dadurch könnten Millionenbeträge gespart werden.
Als Schutz bei Sturmfluten haben sich Salzwiesen schon während der Jahrhundertflut 1953 bewährt, die vor allem die niederländischen, englischen und belgischen Küsten traf. Wissenschaftliche Berechnungen stellten fest, dass die Salzwiesen vor den Deichen dafür sorgten, dass diese weniger tief durchbrachen.
Salzwiesen erhalten die Artenvielfalt
Das liegt vor allem an den über 45 Pflanzenarten, die auf den Salzwiesen wachsen. Oberirdisch bremsen ihre Halme heranrollende Wellen, ihre Wurzeln stabilisieren den Boden. Im Winter, wenn die Sturmfluten am gefährlichsten werden, sind zwei Pflanzen besonders dominant: das Salz-Schlickgras und die Kriech-Quecke. Sie werden über einen Meter hoch und sehen aus wie Getreide im Watt. Keimer bevorzugt die lateinischen Namen: Spartina anglica und Elymus. Diese zwei Arten untersucht sie für ihre Promotion. Doch bevor die Forscherin die Pflanzen im Labor analysieren kann, muss sie in die Salzwiesen und Proben sammeln.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Es ist still auf der Insel, als sich Keimer und ihr studentischer Mitarbeiter aus dem Haus schleichen. Gegen sieben Uhr begegnen sie niemandem auf der Insel. Die beiden haben einen langen Tag vor sich. In Gummistiefeln laufen sie einen schmalen Weg entlang, auf dem jeder ihrer Schritte im Matsch schmatzt. In der Dämmerung sind kaum Farben zu erkennen. Der Pfad windet sich vorbei an Grasbüscheln und durch Schlammlöcher, ein falscher Schritt und man kann knietief im Boden versinken. Aber den beiden ist der Weg vertraut.
Durch die häufige Überflutung der Salzwiesen mit Meerwasser hat der Boden hier einen sehr hohen Salzgehalt. Pflanzen wie das Salz-Schlickgras oder die Kriech-Quecke haben spezielle Strategien entwickelt, um trotz des vielen Salzes zu überleben. „Im Sommer sehen die Salzwiesen wunderschön aus – alles blüht“, erzählt Kara Keimer. Im November geben die Halme der Gräser ein eher tristes Bild ab und verschwimmen zu einer graubraunen Fläche.
Für die Tier- und Pflanzenwelt sind sie ein besonders wertvoller Lebensraum: Rotschenkel und Ringelgans sind nur zwei der circa 50 Vogelarten, die Salzwiesen zum Brüten, Rasten oder als Futterplatz nutzen. Und auch ungefähr 1.650 Arten Krabbeltiere wie die Gelbe Wiesenameise oder der Prächtige Salzkäfer leben hier.
Gleichzeitig tragen bewachsene Küstensysteme wie Salz- und Seegraswiesen oder Mangrovenwälder maßgeblich zum Klimaschutz bei, da sie CO2 aus der Atmosphäre aufnehmen. Das Kohlenstoffdioxid wird in organisches Material umgewandelt und in Biomasse, Böden und Sedimenten gespeichert. Die wässrigen, sauerstoffarmen Böden verlangsamen den Abbau des organischen Materials – und verhindern so, dass das CO2 wieder in die Atmosphäre gelangt. Durch die besondere Bedeutung dieser Küstensysteme für den Kohlenstoffkreislauf hat sich in der Wissenschaft der Begriff „Blue Carbon“ etabliert.
„Ich schau mir mal die Boje an“, ruft Keimer ihrem Kollegen zu und läuft weiter Richtung Meer. Viele Worte wechseln die beiden nicht. Als eingespieltes Team kennen sie die Abläufe. Während er sich in die Wiese hockt und beginnt, einzelne Halme mit der Gartenschere abzuknipsen, läuft sie zur Wasserkante. Auf dem sandigen Boden reiht sich eine Pfütze an die nächste, die Luft riecht schlammig. Keimer bleibt stehen. Sie hat die unscheinbare kleine Plastikbox entdeckt, die mit einer Angelschnur an einem Anker befestigt ist – die Mini-Boje.
Wenn die Flut kommt und die Wiese überspült, misst ein Sensor in der Boje, wie lange sie unter Wasser steht. Je nach Wetterbedingungen und Jahreszeit können es mehrere Stunden täglich oder keine Überflutung innerhalb von Tagen sein. Jedes Mal, wenn sich die Wellen über die Salzwiese wälzen, bringen sie kleine Sedimentteilchen mit, die sich absetzen und eine Schicht aus feinem Schlamm bilden.
Durch diesen Vorgang wachsen die Salzwiesen Jahr für Jahr ein Stück in die Höhe. Bis zu einem Zentimeter wachsen sie in zwölf Monaten an. Sie steigen also – wie auch der Meeresspiegel. Ob sie mit dem Wasser mithalten können, ist allerdings noch unklar.
Mit steifen Halmen gegen die Wellen
Umso wichtiger ist es, den naturbasierten Küstenschutz zu verstehen. Als naturbelassene Insel eignet sich Spiekeroog dafür besonders. Denn nur da, wo sich die Natur frei entfaltet, kann sie auf ihre Umwelt reagieren. Im Gegensatz zu Stränden, an denen Menschen ein Bauwerk neben das nächste gesetzt haben, hat die Natur auf der kleinen Nordseeinsel Raum. So sprießen auf Spiekeroog nicht nur die Salzwiese, auch die weitläufige Dünenlandschaft, die Kolleg*innen von Keimer untersuchen, wächst. Sie bilden ein Bollwerk gegen den Sturm und dienen ebenfalls als Lebensraum für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten, die am liebsten ungestört bleiben.
Zurück im Labor schneidet Keimer die gesammelten Halme in acht Zentimeter lange Stücke. Sie möchte wissen, welcher Kraft die Halme standhalten, um herauszufinden, bei welcher Wellenkraft sie brechen. Um das zu messen, legt sie die Pflanzenschnipsel auf eine Materialprüfmaschine. Sie misst die Flexibilität – oder die Steifigkeit, wie die Forscherin sagt – vom unteren Teil der Pflanze bis zur Spitze. Mehrere Stunden lang legt sie beharrlich Schnipsel für Schnipsel auf die Maschine, dazwischen greift sie immer wieder nach Keksen und Gummibärchen hinter sich.
Anhand der Ergebnisse wollen Keimer und ihre Kolleg*innen besser verstehen, wie die Pflanzen mit dem Meer interagieren: „Wenn wir die Pflanzen mechanisch analysieren, dann können wir die Interaktionen zwischen den Wellen und der Vegetation besser verstehen“, erzählt sie.
Anhand von Pflanzenmodellen, die sie im Labor nachbauen, und mithilfe von künstlich erzeugten Wellen können sie simulieren, wie das Wasser die Pflanzen umströmt – und wie sich die Vegetation auf die Wellen auswirkt. So lernen sie von Salz-Schlickgras und Kriech-Quecke, wie die Küste geschützt werden kann und wie sich Salzwiesen in Zukunft noch besser in den Küstenschutz integrieren lassen. Stellenweise sei im niedersächsischen Wattenmeer schon zu beobachten, dass sich an künstlich angelegten Salzwiesen natürliche Salzwiesen bilden.
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