Hardbop-Jazzpianist Siegfried Kessler: Die legendäre linke Hand
Der Saarländer Pianist Siegfried Kessler, hierzulande unbekannt, war in Frankreich ein Star. Seine sensationellen Alben erscheinen jetzt wieder neu.
Mit einem rosafarbenen VW Karmann Ghia dreht Siegfried Kessler Runde um Runde, vom Mittelmeer umgeben, auf der Mole von Le Grand Motte in Südfrankreich. Dann steigt er aus dem fahrenden Auto und sieht zu, wie es ohne ihn weiter im Kreis fährt. Danach steigt er wieder ein und braust davon.
Die Bilder aus Christine Baudillons Porträtfilm „A Love Secret“ (2002) zeigen den damals fast 70-jährigen Pianisten als trotzigen Clown, gerne auch enthusiastischen Erzähler und Selbstdarsteller mit einem leicht bitteren Unterton, der mit seiner Raubauzigkeit ebenso kokettiert wie mit seiner verspielten und zarten Spontaneität.
Kessler hat Humor: Er lässt die im Jazz so geliebte Energie auch mal in leeren Kreisbewegungen sich verschwenden. Man habe ihm gesagt, seine Hände seien zu grob für einen Pianisten, erzählt er: „Aber wir gehören nicht zu denen, die das Klavier streicheln, man muss es schlagen“.
Der Künstler hatte eine legendär harte, präzise, rhythmische linke Hand. Man sieht ihn aber nun, wie er die von Brahms für die linke Hand eingerichtete Chaconne von Bach spielt; alles andere als brutal, wenn auch muskulös. Man hört dies auch auf seinen ersten beiden eigenen Trio-Alben: „Live at the Gill’s Club“ (1970, mit Barre Phillips und Steve McCall) und „Solaire“ (1971, mit Gus Nemeth und Stu Martin).
Siegfried Kessler, Barre Phillips, Steve McCall: „Live at the ‚Gill’s Club‘“ (Futura 1970);
Siegfried Kessler, Gus Nemeth, Stu Martin: „Solaire“ (Futura 1971/Souffle Continu 2023)
Perception: „Perception“ (Futura 1971/Souffle Continu 2019):
Perception: „& Friends“ (A.D.M.I 1973/Souffle Continu 2019);
Perception: „Mestari“ (Le Chant Du Monde 1973/Souffle Continu 2019);
Siegfried Kessler Trio featuring Archie Shepp „Invitation“ (Impro 1979);
Archie Shepp Quintet: „Bird Fire“ (Impro 1979);
Archie Shepp: „Little Red Moon“ (Soul Note 1986)
Perception: „Live at Le Stadium“ (Souffle Continu 2019);
Yochk’o Seffer 4tet: „Acèl Toll“ (Great Winds 2011)
Der Debütant hat da äußerst avancierte internationale Rhythmusgruppen und vor allem auf „Solaire“ in Stu Martin einen umwerfend subtiles Prügel-Genie als perkussiven Partner. Deren aufregenden Austausch kann man jetzt wieder hören: Das Pariser Label Souffle Continu hat diese, wie auch vorher und in Bälde andere Veröffentlichungen des Futura-Labels wiederveröffentlicht.
International, anschlussfähig und offen für andere Welten
Der französische Free Jazz der späten 1960er und frühen 1970er entwickelte ja einen hierzulande weitgehend ignorierten dritten Weg zwischen zentraleuropäischem Avantgardismus und Brutalismus (Holland, Deutschland, Großbritannien) einerseits und der Regionalisierung, die in den USA passierte, andererseits; nicht zuletzt dank der zahlreichen afroamerikanischen Exilanten in Paris. Man war sehr international, anschlussfähig und viel früher offen für andere Welten – sei es Musik anderer Weltgegenden, seien es andere Künste wie Kino, Tanz, elektronische Musik; selbst Rock und Pop fanden andere Einflugschneisen in die Jazzwelt.
Kessler wird 1935 in Saarbrücken geboren. Sein dem Vernehmen nach wohlhabender Vater stirbt früh, seine Mutter, heißt es, ist künstlerisch, unstabil, krisenanfällig und verschwindet hin und wieder in Anstalten. Kessler wird früh als begabt entdeckt und zum Pianisten ausgebildet, der nebenher Flöte, Klarinette und Schlagzeug an der Hochschule für Musik Saar studiert haben soll. Mit dem Akkordeon begleitet er Chansonniers auf der Straße.
1957 kommt das Saarland zur Bundesrepublik, Kessler findet das nicht gut – „Ich kenne die Deutschen, ich weiß, wozu sie fähig sind“ – und geht nach Frankreich. Deutschland kommt in seiner Musik, der Auswahl seiner Sidemen und sonstigen zahllosen Kollaborateure nie wieder vor. Er interessiert sich für Tschaikowski, Debussy und neue Musik: Varèse, Messiaen. Und nichtdeutschen Jazz. Nur der VW Karmann Ghia ist in Saarbrücken zugelassen: Er hat ihn von seiner Mutter geerbt.
Kessler landet schließlich in Paris; zunächst als Begleiter von verschiedenen Liedermacher:innen wie Gilles Elbaz und als Sideman von nach Paris verschlagenen, heute vergessenen US-amerikanischen Anregern des französischen Jazz wie Dizzy Reece und Hal Singer. Gerald Terronés, Betreiber des Jazzclubs „Gill’s“, 1969 Gründer des Futura- und 1975 des Marge-Labels, nimmt ihn unter seine Fittiche.
Auf den beiden Trio-Alben erklingt schon eine heftige Lebenssumme, die Dringlichkeiten eines Mittdreißigers, der auf diese Gelegenheit wohl schon länger gewartet hat: sehr vital und sehnsüchtig, aber nicht ungefährdet und durchaus an der Steigerung von Fallhöhen interessiert.
Immer noch zu empfehlen
Doch schon 1970 wird er Keyboarder von Perception. Ein hitzköpfiges Quartett aus Exilanten und Halbfranzosen unterschiedlicher Pole des neuen Jazz, die sich in einer magischen Nacht im „Gill’s“ gefunden hatten: der Exil-Ungar Yochk’o Seffer (Saxofone), der vietnamesische Franzose Jean-My Truong (Schlagzeug), der Saardeutsch-Franzose Siegfried Kessler und der Bassist-about-town Didier Levallet. Drei superdichte Studio-Alben entstehen in kurzer Zeit, ein Live-Album wird 1977 nachgeschoben.
Die Band Perception kann man immer noch allen empfehlen, die etwa auch die mittlere Phase der britischen Jazzrockband Soft Machine mögen (drittes bis fünftes Album): Es ist dieselbe Mischung aus giftig-elektrischem Free Jazz und ambitionierten komponierten Anteilen mit einem eklektischen Interesse an ganz anderen Sachen, zum Beispiel Minimalismus oder Folk.
Kessler widmet sich überwiegend neuen E-Piano-Modellen und schleppt, sein altes Interesse an elektronischer Musik wiedererweckend, Ringmodulatoren ins Studio. Auch die Perception-Alben werden damals auf Futura veröffentlicht und sind nun dank Souffle Continu wieder verfügbar.
Die Band steht indes im Spannungsfeld zahlreicher anderer Aktivitäten der Beteiligten. Seffer und Truong verkehren im Umfeld von Magma, der großen französischen Fantasy-Jazz-Rock-Institution der 1970er, Seffer ist kurz Mitglied, Truong und er spielen lange beim Magma-Offspring Zao. Levallet und Kessler jammen hier und dort, begleiten alle möglichen Leute.
Doch dann kommt es 1977 zu einer weiteren entscheidenden Wende für Kessler: Er wird zum Dauerbegleiter von Archie Shepp. Dieser – heute letzte – Überlebende der heroischen Jahre des politisierten US-Free-Jazz beginnt Ende der 1970er verstärkt, sich älteren afroamerikanischen Traditionen zuzuwenden, Blues und Hardbop. Kessler macht vor allem Letzteres mit und da weiter, wo seine Trioalben aufgehört haben: ein lyrisch geprügeltes Klavier, gerne lakonisch hart, dazwischen irre sprudelnd.
Anderen Menschen eine Schallplatte vorspielen
Auf seinem Boot, auf dem er die letzten Jahre seines Lebens gelebt hat, konzertiert er nicht nur für die Dokumentaristin, er legt auch Platten auf. Einem anderen Menschen eine Schallplatte vorspielen und diesen dann ansehen – eine häufig erlebte Situation unter Musikliebhaber:innen, aktiv wie passiv: Ich habe sie noch nie in einem Film gesehen. Das zeigende Gesicht – besser als ein Warhol-Screen-Test.
Kessler legt „Ugetsu“ auf, sein absolutes Lieblingsstück, eine Komposition von Cedar Walton, hier von diesem mit Art Blakey und seinen Jazz Messengers aufgeführt, und schaut seine Interviewerin rührend erwartungsvoll an. Dann zählt er seine Lieblingspianisten auf: Neben Walton sind das Horace Silver, Tommy Flannagan, Bobby Timmons, Bill Evans, Jaki Byard und Herbie Hancock, keine Freejazzer.
Kessler hat an der Seite von Shepp eine ganz bestimmte Tradition freigelegt, die harte, genaue Spielweise, die das schüchtern verborgene lyrische Element offenbar stärker herausfordert und wirkungsvoller zur Geltung bringt als die schweifende Freiheit.
Im Glitzeranzug übers E-Piano gebeugt
Während er dies mit Shepp entwickelt, meist auf Alben unter Shepps Namen, aber einmal auch als Siegfried Kessler Trio featuring Archie Shepp (sehr empfehlenswert: „Invitation“, 1979 mit „Ugetsu“ und Horace-Silver-Stücken), arbeitete er mit der Tänzerin und Choreografin Maroussia Vossen, der Adoptivtochter von Chris Marker („La Jetée“, „Sans Soleil“), an einer Reihe von aufsehenerregenden Performances.
Das 1985 gemeinsam mit Vossen und dem Bildhauer René Lunel entstandene Stück „Nam“ ist der Höhepunkt dieser Phase. Auf alten Fotos sieht man Kessler im Glitzeranzug übers E-Piano gebeugt, während Vossen mit verrenkten Gliedmaßen im Halbdunkel an einer Metallskulptur festzukleben scheint.
Empfohlener externer Inhalt
In den 1990ern werden die Veröffentlichungen seltener, noch nicht die Live-Auftritte. Mehr und mehr zieht er sich auf sein Boot zurück, das natürlich auch „Ugetsu“ heißt. Er rühmt sich seiner eisernen Gesundheit: Er rauche die stärksten Zigaretten der Welt, filterlose Boyard, will morgens um 11 schon die erste Flasche Fernet Branca geleert haben, mittags Bourbon, nachmittags Gin, und abends folgen fünf Flaschen Rotwein – ohne davon Schaden zu nehmen. 2007 wird sein lebloser Körper im Hafenbecken von La Grande Motte am Mittelmeer gefunden.
Yochk’o Seffer und Didier Levallet, mit denen Kessler die meisten seiner insgesamt 74 Tonträger aufgenommen hat, widmen ihm 2011 ein sehr intensives Album des Yochk’o Seffer 4tet, „Acèl Toll“; Seffer komponiert und spielt eine furiose dreiteilige „Suite for Siggy Kessler“, Levallet begleitet am Bass und verfasst eine Hommage an den Mann, der es geschafft habe, „dem jugendlichen Überschwang seiner Mitstreiter durch einen generös geteilten Reichtum an Harmonien einen Sinn zu geben“.
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