PONYS IN DER HASENHEIDE UND WADEN IM GRILLRAUCH: Bingospielen in New York
VON SONJA VOGEL
Die Maientage in der Hasenheide sind ein Ereignis. Kein Wochenende kann besser beginnen als mit einem Ausflug dorthin. Es riecht nach Zuckerwatte und Pferd. Die apathischen Ponys mit Drehwurm lassen die Unterlippe hängen.
Auf das ohrenbetäubende Getöse der seltsamen Fahrgeschäfte reagieren sie gar nicht mehr. Ähnlich stoisch der dürre Mann in Bermuda-Shorts, er lehnt an dem kleinsten Pony und lässt Peitsche und Gliedmaßen baumeln.
Drei Runden drehen J. und ich – vorbei am Fliegenden Teppich, der Wilden Raupe und Fast Food Halal – aber die Geisterbahn ist nicht da. Die großartig kaputte Geisterbahn! Attraktion aller Maientage! Ich bin untröstlich. Noch im letzten Jahr war ich mitgefahren. Drinnen funktionierte gar nichts. Hinter der ersten Biegung aber stand ein lebendiger Mann, der „Hallo“ sagte. Ich bekam fast einen Herzinfarkt. Meine Begleitung lachte sich schlapp.
Am Abend gehe ich zur Dschungelbar ins Laidak. Die Jungle World hat Evelyn Steinthaler vom Milena Verlag eingeladen, damit sie mit wienerischer Nonchalance „Frauen 1938. Verfolgte – Widerständige – Mitläuferinnen“ vorstellt. Die 4Kneipe ist voll. Das Buch stellt die Frage nach Täter- und Opferposition von Frauen im „angeschlossenen“ Österreich. Beeindruckend sind die Tondokumente der Zeitzeuginnen.
Als wir später beim Bier zusammensitzen, verabreden wir uns zum Bingo spielen. In New York. Zufällig ist Evelyn zur selben Zeit dort. Was für ein Jetset-Leben. Für einen kurzen Moment sind wir furchtbar eingebildet. Dann muss die Verlegerin gehen, in wenigen Stunden geht’s zurück nach Wien. Beim Nachhauseradeln muss ich mir das Buch hinten in die Hose stecken. Setzen geht trotzdem nicht.
Am nächsten Tag habe ich deshalb Muskelkater. Kurz genieße ich das schöne Wetter, strecke im Körnerpark auf dem türkischen Hügel die Waden in den Grillrauch. Dann gehe ich noch mal ins Bett. Schließlich muss ich um 19 Uhr bei B. auf der Matte stehen. Der feiert Geburtstag. Mit seinen Eltern. Mama und Papa verbringen regelmäßig die Sommermonate in der Berliner Wohnung des erwachsenen Sohnes, schälen dort Orangen und Gurken. Nach ein paar Gläsern Erdbeerbowle tanzen sie wild mit den albanischen und türkischen Gästen.
Nächste Station: Rroma Aether Akt Theater. Das beste Café in Neukölln. Mit der besten Musik, dem leckersten Schnaps, dem unterschätztesten Theaterprogramm. Zwischen Artefakten einer untergegangen Welt und Kunstgegenständen sitzt man dort auf gemütlichen Sofas. „Da sind wir!“, ruft Stammgast D., als hätte man uns erwartet.
Mama hat gekocht
Es ist schon früh, als die Ringbahn mich nach Friedrichshain befördert. In der K9 steigt die Soliparty für die Linken Buchtage. Und das ist eine Reise wie eine Spende wert. Zu Von Raben schwinge ich ein bisschen die Hufe.
Am Sonntag schlendern wir zum Kanal. „Neukölln scheißt zurück“ steht dort in ungelenken Lettern an einem Betonklotz. Stimmt irgendwie. Jedenfalls ist der Hundehaufenquotient ähnlich angestiegen wie die Mieten. Dann schnell ins Zeughauskino: „The old school of capitalism“ von Zelimir Zilnik – dem Enfant terrible des serbischen Films.
Der Film handelt vom gewollten Niedergang der Wirtschaft nach der Ära Milosevic und den Folgen der Privatisierungen. Eine deprimierende Einstimmung auf den noch deprimierenden Ausgang der serbischen Präsidentschaftswahl am selben Abend.
Pünktlich zur Dämmerung bin ich zurück am Dorfplatz. Vor dem Rathaus Neukölln plätschert der Brunnen. Auf der Karl-Marx-Straße jaulen die getunten Protzkarren auf. Vor uns lassen sich zwei Männer vom Ordnungsamt nieder, der Schweißfleck auf dem Rücken des einen hat den Umriss von Südamerika. Dann muss B. nach Hause. Mama wartet mit dem Essen.
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