: Ewiger Rückkehrer
Der Schotte Andy Murray beweist auch mit künstlicher Hüfte seine Qualitäten und überrascht bei den Australian Open gegen Matteo Berretini in fünf Sätzen
Aus Melbourne Jörg Allmeroth
Vor vier Jahren und drei Tagen flimmerte in der Rod Laver Arena ein berührender Videoclip über die großen Anzeigewände. „Farewell Andy“ hieß der Film, gewidmet einem Mann, dessen Australian Open-Karriere an jenem 14. Januar 2019 wegen seiner leidigen Hüftprobleme enden sollte. Andy Murray hatte gerade sein Auftaktmatch in fünf Sätzen gegen den Spanier Roberta Bautista Agut verloren, nun schaute er gemeinsam mit 16.000 Fans zu, wie ihn seine größten Gegner adelten und sich mit feinen Worten vor ihm verbeugten. „Ich bin Dein größter Fan“, rief ihm ein gewisser Roger Federer zu. Auch Rafael Nadal und Novak Djokovic kamen zu Wort, Murray schluckte schwer, konnte die Tränen nicht zurückhalten: „Es ist ein schwerer Moment jetzt. Aber ich bin dankbar für alles, was ich hier erleben durfte.“
Aber Murray, mittlerweile 35 Jahre alt, ist noch immer da. Und wie. Als er sich am Dienstag an die Nacht des vermeintlichen Abschieds erinnerte, an die emotionsgeladene Good-bye-Geschichte des scheinbaren Vorruheständlers, musste Murray unwillkürlich auflachen: „Ihr werdet mich halt nicht so einfach los“, sagte der schottische Braveheart, der mit seinem 6:3, 6:3, 4:6, 6:7 (7:9), 7:6 (10:6)-Sieg gegen den Italiener Matteo Berrettini für den ersten großen Sensationscoup bei den Offenen Australischen Meisterschaften gesorgt und irgendwie die Zeit zurückgedreht hatte. Vier Stunden und 49 Minuten hatte Murray in der Lieblingspose des unverwüstlichen, unbeirrbaren Straßenkämpfers auf dem Centre Court gestanden, hatte einen Matchball im fünften Satz abgewehrt und dann im ersten Match-Tiebreak triumphiert. „Um ehrlich zu sein“, so sprach Murray hinterher, „das Ganze fühlt sich schon ein wenig surreal an. Ich bin unglaublich stolz und glücklich.“
Die Spuren des Fünf-Satz-Thrillers mit Happy End waren Murray anschließend anzusehen. Mit blutig aufgeschürftem rechten Knie wankte er nach dem Handschlag mit seinem Top-20-Gegner zum Pausenstuhl, auch die Unterlippe war aufgeschlagen. Eines der „herausforderndsten Matches“ seiner Karriere liege hinter ihm, meinte der einstige Weltranglisten-Erste und zweimalige Wimbledon-Champion lakonisch, „aber auch eins der befriedigendsten.“ Was er vor dem Turnier angedeutet und prophezeit hatte, dass sein metallisches Hüftimplantat „endlich vollständig“ vom Körper angenommen worden sei, bewahrheite sich im Abnützungskampf mit Berrettini, dem Wimbledon-Finalisten des Jahres 2021, der in der Weltrangliste auf Platz 18 steht. Murray rackerte und ackerte wie in besten Zeiten, allen möglichen und unmöglichen Bällen hinterherjagend. Er spielte teilweise auf, als wäre er in einen Jungbrunnen gefallen. „Ich habe Riesenrespekt vor Andy. Seine Leidenschaft und Hingabe an diesen Sport ist einfach unglaublich“, befand Schwedens ehemalige Größe Mats Wilander. Der frühere englische Profi Mark Petchey sagte, Murray habe eine „Mentalität wie aus Granit.“
Tatsächlich hatte sich Murray nach dem Abschied vom Abschied – dank einer geglückten Hüftoperation – vor vier Jahren nie wirklich von seiner Überzeugung abbringen lassen, noch einmal mit den Großen und Starken der Szene mithalten zu können. Es gab Rückschläge, Zweifel, Ängste, Sorgen. Aber Murray sagte, er habe einfach nicht den Glauben an seine Mission verloren, selbst dann nicht, als er in der Weltrangliste bis auf Platz 839 abgerutscht war. Murray profitierte davon, dass er auch Abschied nahm von seiner früher extremen Verbissenheit am Arbeitsplatz.
„Ich mache alles bewusster, präziser, überlegter. Trainiere nicht mehr bis zum Umfallen“, sagt Murray, der inzwischen wieder auf Platz 66 gelandet ist, durchaus in Reichweite der erweiterten Weltspitze. Sein Comeback erfüllt ganz nebenbei auch noch einen höheren Zweck: Denn seit dem Frühjahr 2022 spendete Sir Andy über 600.000 Dollar an Preisgeldern an einen Unicef-Fonds – der damit Kindern in der Ukraine half.
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