berliner szenen
: Das richtige Alter für Gedichte

Wir spielen „Trivial Pursuit“ mit dem 16-jährigen Teenager T. und Freundin K. (17). Für die, die es nicht kennen: Es handelt sich um ein sogenanntes „Brettspiel“, bei dem man – kurz gesagt – Fragen aus sechs Fachgebieten wie Geografie, Geschichte, Naturwissenschaft, Sport und Literatur beantworten muss.

Frage aus dem Bereich Literatur: „Wie lautet die letzte Zeile von Schillers Glocke?“ Die Jugendlichen sind etwas ratlos. „Schiller“ ist offenbar irgendein Autor. Aber was ist „die Glocke“? Es folgt ein Gespräch über Gedichte und Balladen im Schulunterricht. Mit T. habe ich mal eine auswendig gelernt, in der 6. Klasse. Erst hatte er sich an Goethes „Zauberlehrling“ gewagt, es dann mit Fontanes „John Maynard“ versucht – aber beides war ihm dann zu lang und zu mühsam. Weshalb er schlussendlich den „Erlkönig“ auswählte. Ich erinnere mich vor allem noch an das superaufwändige Plakat, dessen Gestaltung die Hälfte der Note beim Thema „Balladen“ ausmachte. Bis heute habe ich nicht verstanden, warum es in jedem Fach immer Bastelnoten gab. Mein Sohn hasst Basteln.

K. erzählt, sie sei auf einer Alternativschule gewesen und habe dort nur ein einziges Gedicht lernen müssen. „Und dann bin ich aufs Gymnasium gekommen in der 7., und da waren wir ja zu alt für Auswendiglernen“. Ich hatte bis dahin nicht gewusst, dass man zu alt fürs Aufsagen von Gedichten sein kann. An meiner Schule früher hatte es da keine Altersbeschränkung gegeben. „Welches Gedicht hast du denn gelernt?“, frage ich. „Walter der Falter“, sagt sie. Sie kann es noch immer auswendig.

Ich habe abends dann Friedrich Schillers „Lied von der Glocke“ nachgelesen. Es endet mit den Worten: „Ziehet, ziehet, hebt! Sie bewegt sich, schwebt. Freude dieser Stadt bedeute, Friede sei ihr erst Geläute.“

Gaby Coldewey