: Schönheit im Profanen
Mit der Kamera auf den Spuren Fontanes: Das Zeughauskino zeigt ab Freitag eine Retrospektive zum Dokumentarfilmer Bernhard Sallmann
Von Fabian Tietke
Schlingernd bahnt sich ein Rad den Weg durch den frischen Schnee, hinterlässt eine dunkle Spur. In der Landschaft hebt der Schnee die Umrisse auf. Als Schneeflocken auf das Objektiv der Kamera fallen, beginnt die Landschaft zum Aquarell zu verschwimmen. Dann blitzt Sonne durch die Bäume. Im Februar/März 2001 wandert Bernhard Sallmann zusammen mit Kameramann Alexander Gheorghiu und dreht „400 km Brandenburg“, eine erste Annäherung an das Berliner Umland. In einigen Kleinstädten wie Jüterbog macht der Film Station, tastet Gräber auf Friedhöfen ab. An der Dorfkirche von Wiepersdorf lässt sich Sallmann von einem Schwan über den Friedhof und zum Grab von Achim von Arnim führen.
Seit spätestens 2016 hat sich Bernhard Sallmann mit vier Filmen nach Theodor Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ als einer der interessantesten Dokumentarfilmer in Deutschland etabliert. Nun bietet eine Retrospektive zu Sallmanns Werk im Zeughauskino die Gelegenheit, sich auch mit seinen frühen Filmen vertraut zu machen. Sein neuster Film, „JWD“, in dem Sallmann sich nach Jahren filmischer Erkundungen in Brandenburg wieder Berlin von seinen Rändern her nähert, startet diese Woche in den deutschen Kinos.
In den späten 1980er Jahren zieht Bernhard Sallmann aus Salzburg nach Berlin und beginnt Medienwissenschaften, später Film an der heutigen Filmuniversität Babelsberg zu studieren. Sein erster Film von 1999 widmet sich der Arbeit der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht. „Deutsche Dienststelle“ zeigt deren Arbeit und interessiert sich für das Selbstverständnis, mit dem die Mitarbeiter_innen der Behörde diese Arbeit verrichten. 2001 erkundet er „Berlin-Neukölln“ frei von jenem Schlagwort-Regen, der so oft über diesen Bezirk niedergeht. Es folgen Filme über die Lausitz und eine temporäre filmische Rückkehr nach Oberösterreich („Das schlechte Feld“).
2015 widmet Sallmann dem großen Zittauer Fastentuch einen Film. „Fastentuch 1472“ tastet das 56 Quadratmeter große und bemalte Leinentuch mit der Kamera ab, zunächst im Ganzen, später jedes der 90 Felder im Detail. Die Temperamalerei von 1472 zeigt je 45 Bilder aus dem Alten und Neuen Testament von der Schöpfungsgeschichte über das Leben Jesu bis zum Jüngsten Gericht. In dem Film wendet Sallmann seine Fähigkeit, Orte und Objekte zum Sprechen zu bringen, auf eines der eindrücklichsten Werke religiöser Kunst in Deutschland an. Während die Kamera die 65 mal 65 Zentimeter großen Felder entlanggleitet, erfasst sie das Kunstwerk als Objekt: die Textur des Stoffes und der Malerei, die Narben, die die Geschichte des Tuches hinterlassen hat. Sallmanns Bilder verorten das Fastentuch als historisches Kunstwerk in der Gegenwart. Interviews in der säkularisierten Kreuzkirche, in der das Fastentuch heute hängt, ergänzen teils assoziativ, teils historisch den Kontext.
Dampf wabert von der gegenüberliegenden Seite des Sees herüber. Während die Augen zusehen, wie die weißen Schwaden sich amorph ausbreiten, beginnt die Schauspielerin Judica Albrecht einen Abschnitt aus Theodor Fontanes „Kinderjahren“ zu lesen. „Oderland Fontane“ beginnt mit dem größten Schatz der Brandenburger Landschaften, den Seen, und mit dem Film begann 2016 Bernhard Sallmanns größter Werkkomplex.
Vier Filme nach Theodor Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ entstehen bis 2019: „Oderland“, „Rhinland“, „Spreeland“, „Havelland“. Die Filme greifen Fontanes Texte als Ausgangspunkte einer Annäherung an eine Kulturlandschaft auf und nutzen sie zur Entschlüsselung einer Entwicklung, die sich von heute zurückverfolgen lässt. Sallmanns neuster Film „JWD“ nähert sich ähnlich, wenn auch ohne Kommentar, der Wahlheimat des Regisseurs. Der Film spürt im Berlin von heute Orten nach, an die es die Bewohner_innen der Stadt Ende des 19. Jahrhunderts an Wochenenden und Feiertagen zur Entspannung zog.
In den knapp 25 Jahren, die Sallmanns Filme umspannen, ist ein dokumentarisches Werk entstanden, das nicht aufhört, im Alltäglichen Beachtenswertes zu finden, im scheinbar Profanen Schönheit. In den starren, exakten Einstellungen, mit denen Sallmann und seine Kameramänner die Welt abtasten, wird auf je verschiedene Weise etwas sichtbar, was vorher unsichtbar war. Sallmanns Filme zeigen uns die Welt auf immer neue Weise und lehren uns stets aufs Neue, sie zu sehen.
* Der Autor dankt Gabriel Hageni und Debora Fiora vom Kino Krokodil für die Unterstützung beim Besorgen von Sichtungsmaterial.
„Dokumentarische Positionen: Bernhard Sallmann“, Zeughauskino, 13. 1.–11. 2., www.dhm.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen