: Die große Odyssee
Manchmal wird die U 7 zur Geisterbahn. Alles vernebelt, Schwindel erzeugend, verdoppelt. Woran das nur liegen kann?
Von Uli Hannemann
Es ist uns seit vielen Jahren eine liebgewonnene Tradition: Jeden Dezember besuche ich mit meinem Freund P. aus Spandau den dortigen Weihnachtsmarkt. Wir verschwenden keine Zeit an Tinnefbuden, sondern kapern eine Bank neben dem Glühweinstand unserer Wahl. Von dort erheben wir uns nur noch, um die Becher in regelmäßigen Abständen neu befüllen zu lassen. Aber immer mit Schuss: der Glühwein mit Schuss von Rum, und wir mit Schuss von Socke.
Doch natürlich ist das Ganze eher als ironische Performance zu betrachten, eine Metakritik an Weihnachten und Konsum und so, eh klar. Ich mein, hallooo??!: Wir! Spandau! Glühwein! Weihnachtsmarkt! Mehr muss man ja wohl nicht dazu sagen, oder? Ja, um Gottes willen, wir sind doch nicht einfach nur bekloppte Saufbolde.
Nach dem Weihnachtsmarkt schwanke ich auf dem Weg zur U-Bahn plötzlich wie ein Schilf im Vollrausch. Auweia, auf mich wartet die Hölle in Form einer dreißig Stationen langen Heimfahrt mit der U7.
In der Bahn stiere ich stur zu Boden, weil mir vom Anblick anderer Menschen schwindlig wird und ihnen sicher auch von meinem. Hilft aber nix: Am Richard-Wagner-Platz unterbreche ich zum ersten Mal die Fahrt. Alles dreht sich. Ich brauche frische Luft und würde gern ein paar Stationen zu Fuß gehen. Blöd nur, dass mir oben auf der Straße auf einmal jede Orientierung fehlt.
Das ist ja merkwürdig. Da tankt man nur ein paar Stunden lang Ethanolabfälle, und schon tiltet die Birne wie ein Billigflipper. Ich stolpere wieder runter und hinein in die nächste U-Bahn.
Diesmal schaffe ich es bis zur Konstanzer Straße. Dort das gleiche Bild wie zuvor: Eine große Kreuzung, und ich weiß nicht, wo es langgeht. Alles ist finster, in meinem Kopf und auf der Straße. Ich lese die Straßenschilder, ohne zu begreifen. Die Buchstaben kommen mir vage bekannt vor, nur möchten sich die kryptischen Krakel nicht mehr zu Botschaften fügen. Wenn es Tag wäre, ließe sich wenigstens die Himmelsrichtung bestimmen. Von Spandau aus muss ich schließlich immer bloß nach Osten.
Aus berechtigter Sorge, mich zu verirren, zu erfrieren und irgendwo zu sterben, sobald ich mich aus Sichtweite des Bahnhofs entferne, setze ich die Fahrt fort. Schon an der Berliner Straße muss ich erneut raus. Das waren diesmal nur drei Stationen – ganz schlechte Quote. Wenn das so weiter geht, bin ich bis zum Betriebsschluss nicht zu Hause; dabei ist es nicht mal neun Uhr abends. Jedes Jahr das gleiche Theater. Eines Tages wache ich noch mit einer Niere weniger und dafür mit einem eingeklebten Bienchen im Organspendeausweis auf.
Ein rettender Gedanke entsteigt auf einmal wie Phönix aus der Flasche den rauchenden Trümmern meiner flambierten Gehirnzellen: Berliner Straße ist relativ easy von der Geografie her. Das könnte selbst in meinem Zustand noch zu wuppen sein. Die Straße führt hier schnurgerade die U7 entlang von West nach Ost, beziehungsweise von Ost nach West – die Chancen stehen also fifty-fifty. Wenn ich hier einfach immer weiter geradeaus gehe, komme ich irgendwann nach Kreuzberg, und am Ende nach Neukölln.
Da wohne ich. Überall klingeln. Die Treppe hoch, mit dem altbekannten Schürfgeräusch, Jacke an Treppenhauswand. In einem halbstündigen, motorischen Kraftakt die Tür aufschließen. Ein großes Glas Wasser. Wände, die mich halten, wenn ich taumle. Eine Kloschüssel, die die weichen Früchte meiner Unpässlichkeit umhegt. Ein Bett, das mich auffängt, wenn ich falle.
Mit frischem Mut stiefle ich drauflos. An der Blissestraße weiß ich immerhin, dass ich in die falsche Himmelsrichtung gelaufen bin: eine wertvolle Information. Die Aussagekraft des Fehlversuchs – genau so funktioniert Wissenschaft. „Du kannst mich nicht ficken, Blissestraße“, lalle ich laut. „Du nicht!“ Passanten drehen sich jeweils paarweise nach mir um: komisch, alles Zwillinge. Ich mache kehrt und laufe in die entgegengesetzte Richtung.
Berliner Straße. Bayrischer Platz. Eisenacher Straße. Bekanntes Terrain. Wacker schreite ich aus, Kilometer um Kilometer. Das tut gut. Erst am Kleistpark unternehme ich den nächsten Versuch mit der U7. Es wäre doch schade um den Fahrschein.
Der Fahrgenuss hält sich leider nach wie vor in Grenzen. Aus einem dumpfen Nebel bellen schemenhafte Gestalten Unverständliches. Ich fühle mich unwohl. Es ist, als hätte ich statt der U- versehentlich die Geisterbahn genommen, und ich weiß doch gar nicht, wo die hinführt. Deshalb steige ich Mehringdamm wieder aus und laufe weiter, immer nur gen Osten.
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