Ausgehen und rumstehen von Paula Marie Kehl
: Der Freitag beginnt mit Nasenbluten

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Das Wochenende ist ein Durchgehen und frühes Aufstehen. Durchgehen von Terminen, Absprachen und möglichen Gefahren, was den Tagesablauf meiner beiden jüngeren Cousins betrifft. Meine Tante und ihr Partner fahren über das Wochenende nach Köln und ich soll auf die beiden Jungs aufpassen.

Der Freitagmorgen beginnt früh und mit Nasenbluten. Der Anblick der blutüberlaufenen Hände meines elfjährigen Cousins, die vergeblich versuchen, die Menge Blut aufzufangen, zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Ich schaffe es noch, J. mit einem großen Handtuch vom Kinderzimmer ins Bad zu manövrieren, den hellen Teppich im Flur dabei fest im Blick, ehe mir schwindelig wird und ich mich ins Nebenzimmer schleppe, um meinen Kreislauf wieder in den Griff zu bekommen.

Dann ist das Nasenbluten gestoppt, mein Schwindel vorbei, wir frühstücken.

Während sie ihre Ranzen packen, biete ich ihnen trotz ausreichenden Tageslichts mehrmals ihre Warnwesten an, erinnere achtmal an das vorausschauende Fahren im Straßenverkehr und fühle mich mit dem Hinterhersehen vom Balkon aus endgültig wie eine Helikoptermutter.

Wie ich so dastehe mit den nackten Füßen in den Hausschuhen und weit über den Balkon gelehnt, um wenigstens die ersten Meter des Schulwegs noch mitverfolgen zu können, ahne ich, was es bedeuten muss, Kinder zu haben.

Der Samstag beginnt um 7.30 Uhr und ohne Nasenbluten. Sie spielen beide Fußball in einem Verein, und F., der Jüngere der beiden, hat ein Fußballtunier. Am Vormittag fahre ich mit dem Rad zum Platz, um ihn abzuholen, und schaue vom Fußballrand die letzten Minuten zu.

Die Eltern der gegnerischen Mannschaft, die ihren Kindern Motivationen und Beleidigungen zubrüllen, irritieren mich in ihrer ernsthaften Enttäuschung über verfehlte Pässe. Auf dem Rückweg stelle ich fest, dass das Tempo meines neunjährigen Cousins nicht viel langsamer ist als meine gewohnte Fahrweise. Er fährt achtsam und konzentriert, als gäbe es in diesem Moment nur den wilden Straßenverkehr Berlins und sein orange leuchtendes Fahrrad.

Am Mittag holen die beiden Essen von ihrem Lieblingsdönerladen. F. hat sich seinen Döner in scharf bestellt. Er will sich erst nichts anmerken lassen und löffelt dann doch synchron zum Döner und entgegen dem Feuer in seinem Mund Naturjoghurt.

Später wundere ich mich über die verlernten Urgesetze des Kindseins

Nach dem Essen fragen sie nach dem Tablet. Sie wollen „Musik“ hören. Ich händige es ihnen aus und wundere mich erst mal nicht über die Stille im Kinderzimmer. Später wundere ich mich über meine Naivität, noch mehr über die verlernten Urgesetze des Kindseins: pure Endorphinausschüttung bei Kindersendungen.

Um 6.30 Uhr stehe ich am Sonntagmorgen auf. Heute hat J. ein Fußballspiel. Die Langeweile, die F. währendessen quält, kommt mir bekannt vor: Als Kind ein einst so verachtetes Gefühl, das ich jetzt ab und zu beinah vermisse, in seiner Möglichkeit, die Zeit auszudehnen. Zeit, die mir jetzt immer wieder in ihrer Geschwindigkeit entgleitet. Er strahlt, als wir uns auf den Weg in den Skaterpark machen. Ich mit dem Rad, er mit dem Roller bahnen wir uns unseren Weg durch Moabit Richtung Poststadion.

Als ich ihm so dabei zusehe, wie er versunken und nur auf die nächste Rampe konzentriert über den Platz rollt, erinnere ich mich an das Gefühl, Kind zu sein.