die erklärung
: Die Rechnung, bitte!

Bei der Klimakonferenz COP27 wurden Entschädigungen für den Globalen Süden beschlossen – mal wieder. Warum so lange nichts passiert ist und was hinter „Loss and Damage“ steckt

Peru ist für die Klimakrise nicht verantwortlich. Trotzdem wird die Hauptstadt Lima in weniger als zehn Jahren kaum noch Trinkwasser haben. Und dann? Foto: Fo­to:­ Manuel Sulzer/mauritius images

Von Nick Reimer

1 Was bedeutet „Loss and Damage“?

Ursprünglich stammt der Begriff aus der Versicherungswirtschaft und bedeutet „Schäden und Verluste“. Steigende Temperaturen lassen Gletscher schmelzen und Meeresspiegel ansteigen, weshalb Inseln versinken, Äcker versalzen und Städte wie Alexandria, Basra oder Bangkok aufgegeben werden müssen. Perus Hauptstadt Lima etwa liegt mit 13 Millimetern Niederschlag pro Jahr in einer der trockensten Gegenden der Welt. Zum Vergleich: In der Sahara beträgt der durchschnittliche Niederschlag 45 Millimeter. Es gibt drei Flüsschen, die das Trinkwasser aus den Anden nach Lima transportieren. Gespeist werden diese Lebensadern von Andengletschern. Aber die sind wegen der steigenden Temperaturen in spätestens zehn Jahren weggetaut.

Wie werden die neun Millionen Einwohner dann versorgt? Pe­rua­ne­r:in­nen haben mit einem Pro-Kopf-Ausstoß von 1,3 Tonnen Treibhausgas pro Jahr nichts zum Problem beigetragen. 1,5 Tonnen gelten als klimaverträglich, die Deutschen waren 2021 für 11,17 Tonnen pro Jahr und Kopf verantwortlich. Deshalb – so argumentieren die Staaten des Globalen Südens – müssen die Verantwortlichen zahlen, über den Mechanismus „Loss and Damage“.

2 Es ging in den Klimaverhandlungen aber nicht zum ersten Mal ums Geld.

Nein. Bereits mit dem Kioto-Protokoll wurde 1997 beschlossen, dass die Industriestaaten den Ländern des Südens bei den Bewältigungen der Klimafolgen finanziell helfen. Allerdings gab es Streit über das „Wie“. Erst die Weltklimakonferenz COP7 beschloss 2001 in Marrakesch den „Anpassungsfonds“.

Aber „beschlossen“ bedeutete noch nicht „gegründet“: Fünf weitere Jahre vergingen mit Streit darüber, wie der Fonds konstruiert werden soll. Erst als die Staatengruppe der am wenigsten entwickelten Länder – die Least Developed Countries – im Jahr 2006 die COP12 in Kenia blockierte, wurden „grundsätzliche Kriterien“ für eine Mittelvergabe geklärt. Gespeist wurde der Fonds durch „freiwillige Spenden“ und eine zweiprozentige Abgabe auf Projekte des Grünen Entwicklungsmechanismus – des Clean Development Mechanism. Der galt damals als der letzte Schrei: Unternehmen investierten über diesen Mechanismus in Staaten des Globalen Südens und konnten sich die dadurch eingesparten Emissionen selbst anrechnen. Darauf 2 Prozent Steuern, das Konto des Anpassungsfonds sollte sich selbst füllen – unabhängig von der Gunst der Industriestaaten.

3 Und wer sollte dieses Konto verwalten?

Auch darüber wurde gestritten. Die Industriestaaten wollten es von der Weltbank führen lassen, wogegen sich die Länder des Südens wehrten. COP14 einigte sich 2008 im polnischen Poznań, das Konto unter dem Dach des Umweltfinanzprogramms anzusiedeln, einer Weltbank-Tochter, die allerdings auch vom UN-Umweltprogramm mitgetragen wird. Trotzdem konnte der Fonds noch nicht arbeiten, es fehlte die Adresse, an die man Anträge einreichen kann. COP16 im mexikanischen Cancún bestimmte 2010 schließlich Bonn als Zentrale des Fonds, wo auch das Klimasekretariat der UNO sitzt. Nach 13 Jahren Streit floss erstmals Geld, seitdem wurden 778 Millionen US-Dollar für 114 Anpassungsprojekte ausgezahlt.

4 Gaben sich die Staaten des Südens damit zufrieden?

Natürlich nicht! Schließlich hatte die Weltbank 2009 einen Bericht vorgelegt, der besagt, dass die Staaten des Südens ab 2020 jährlich 100 Milliarden US-Dollar brauchen, um sich an die Folgen der Erd­erwärmung anzupassen. Dafür wurde auf der Klimakonferenz COP16 der Grüne Klimafonds gegründet, über den ein Großteil des Geldes ausgeschüttet werden soll: 100 Milliarden US-Dollar jedes Jahr, allerdings erst ab 2020. Diesmal sollte alles besser laufen, trotz der Banken- und Finanzkrise sagten die Industriestaaten für die Jahre 2010, 2011 und 2012 schon mal jeweils 10 Milliarden US-Dollar zu. Doch was danach folgte, ist bekannt: Streit um die Frage, wer wie viel einzahlen soll, Streit um den Sitz des Fonds, Streit über die Besetzung der Verwaltung. 2013 wurde die Tunesierin Hela Cheikhrouhou zur ersten Chefin gewählt, die südkoreanische Stadt Incheon wurde zum Sitz des Fonds.

5 Puh, das dauert ja ewig. Aber jetzt konnte es wirklich losgehen, oder?

Nicht ganz. Denn was immer noch fehlte, war: Geld. Ursprünglich sollten die Industriestaaten ihren Anteil auf 20 Mil­liar­den US-Dollar pro Jahr ab 2013 verdoppeln. Aber sie verlängerten nicht einmal die zugesagten 10 Milliarden. Bis Juni 2021 wurden aus dem „Green Climate Fund“ 173 Projekte mit einer Gesamtsumme von 8,4 Milliarden US-Dollar finanziert, wovon bislang erst 1,9 Milliarden US-Dollar ausgezahlt wurden. Nix ist also mit den 100 Milliarden Klimahilfe. Nach Angaben der Industrieländerorganisation OECD lagen die Klima-Transfers 2020 insgesamt bei rund 83,3 Mil­liarden Dollar.

6 Wie ist die deutsche Zahlungsmoral?

Mittelmäßig. Zwar hatte schon die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel zugesagt, den deutschen Beitrag für die internationale Klimafinanzierung bis 2025 von 4 auf 6 Milliarden Euro aufzustocken. Und die Ampel hatte das zu Beginn ihrer Regierungszeit ebenfalls bekräftigt. Im aktuellen Haushaltsgesetz für das Jahr 2023 sind aber lediglich 4,17 Milliarden vorgesehen und in der mittelfristigen Haushaltsplanung ist keine Aufstockung geplant: „Angesichts der Klimaschuld und unseres Reichtums wären 8 Milliarden angemessen“, sagt Sabine Minninger, Klimaexpertin von Brot für die Welt.

7 Wieso heißt es nach der Klimakonferenz von Scharm al-Scheich, dass mit der Gründung eines neuen Fonds für „Loss and Damage“ ein Durchbruch erzielt wurde?

Weil die Industriestaaten das Thema scheuten wie der Teufel das Weihwasser: Zahlen sie einmal für einen abgetauten Gletscher oder eine untergegangene Insel, könnte das juristisch als Schuldeingeständnis aufgefasst werden und einen Präzedenzfall schaffen. Die Pakistaner, die ihre Häuser durch die Flut verlieren, die Bauern im Mekongdelta, deren Äcker im Meer versinken – ab sofort könnte jeder, der durch den Klimawandel etwas verliert, die Industriestaaten zur Kasse bitten, so ihre Befürchtung. Und tatsächlich laufen Musterklagen, bei denen Vertreter des Südens versuchen, Verantwortliche des Nordens zur Rechenschaft zu ziehen.

Das US-Außenministerium erklärte nach dem Beschluss zu „Loss and Damage“ deshalb, der Fonds werde sich allein darauf konzentrieren, akut etwas gegen Klimaschäden zu tun, eine juristische Haftung oder Entschädigung bleibe ausgeschlossen. Andere bewerten den Beschluss anders: „Angesichts der fürchterlichen Auswirkungen des Klimawandels auf die ärmsten Bevölkerungsgruppen ist dies der längst notwendige Schritt von Industriestaaten, ihre Verantwortung anzunehmen“, urteilt beispielsweise Dagmar Pruin, Präsidentin von Brot für die Welt. Aber: Fonds gegründet, das heißt ja noch lange nicht, dass Geld fließt! Wer zahlt ein? Wo wird das Konto angesiedelt? Der Streit ist programmiert.

8 Wie teuer wird es denn?

Das hängt davon ab, wann endlich mit echtem Klimaschutz begonnen wird. Im Weltklimasystem gibt es 17 Kipp­elemente, die, einmal angekippt, nicht mehr zu stoppen sind. In den Spitzen ist der grönländische Eispanzer 3.300 Meter hoch. Wenn er anfängt zu tauen, wandert die Oberfläche unumkehrbar nach unten in immer wärmere Luftschichten. Allein dadurch steigt der Meeresspiegel um mindestens sieben Meter. Und die Wissenschaft sagt: Wir stehen unmittelbar davor. Deshalb wäre der eigentliche Durchbruch in Scharm al-Scheich der Ausstieg aus Erdöl und Erdgas gewesen.